Lebenslang Ist Nicht Genug
Straße. Sie hatte seither zweimal bemerkt, daß er ihr vom Fenster aus nachsah, wenn sie zum Mittagessen ging.
Im zweiten Stock wohnten außer Gail eine Rothaarige, die etwa in ihrem Alter war und auch ihre Größe hatte, ein älterer, stets schlechtgelaunter Mann von kleiner Statur und schließlich ein dunkelhäutiger Typ. Das fünfte Zimmer war noch frei. Die Rothaarige hatte als einzige schon vor Gails Einzug auf dieser Etage gewohnt. Gail hatte von Anfang an nach einer Gelegenheit gesucht, um mit ihr ins Gespräch zu kommen, aber jedesmal, wenn sie einander begegneten, war die Frau in Begleitung eines anderen Mannes, und Gail hatte nicht gewagt, sie anzusprechen.
Am Nachmittag des vierten Tages hörte Gail die Schritte der Frau im Flur. Sie sprang vom Bett auf und lief hinaus. »Kann ich was für Sie tun?« Die Frau schien zwar verdutzt über diese unerwartete Begegnung, aber keineswegs erschrocken.
Gail zögerte. »Ich dachte, wir könnten uns vielleicht’n bißchen unterhalten...« Sie versuchte, einen zwanglosen Ton anzuschlagen, was allerdings kläglich mißlang.
Die Rothaarige stand schon vor der Tür zu ihrem Zimmer. »Worüber denn?« fragte sie mißtrauisch.
»Ach, über alles mögliche. Wär’ doch nett, sich kennenzulernen, nicht?«
»Ich mach’ nicht in Frauen.«
»Wie bitte?«
»Frauenkundschaft is’ bei mir nicht drin. Bedaure, Schätzchen,
ich geh’ zwar auf’n Strich, aber ich bin nun mal nicht linksrum, da ist nix zu machen.« Sie steckte den Schlüssel ins Schloß.
»Ich möchte mich bloß unterhalten«, rief Gail ihr nach, als sie in ihrem Zimmer verschwand. »Das ist alles. Ganz bestimmt.«
Die Frau machte kehrt. »Wozu?« fragte sie verwundert.
Gail zuckte die Schultern. Sie wußte keine Antwort.
»Sie wollen also reden, hm? Na schön, kommen Sie rein und erzählen Sie mir was, während ich meinen Kram packe.«
»Sie ziehen aus?« Gail folgte der Rothaarigen in ihr Zimmer. Es war genauso eingerichtet wie Gails, befand sich aber in einem völlig anderen Zustand. Gail hatte nie in ihrem Bett geschlafen, ja es nicht einmal aufgedeckt. Das Bett der Rothaarigen dagegen wirkte, als sei es nie gemacht worden. Achtlos hingeworfene Kleider und ungepflegte Perücken türmten sich auf dem Sessel in der Ecke. Jemand hatte den Tisch mit der Lampe gegen die Wand gestoßen, sich aber nicht die Mühe gemacht, ihn wieder geradezurücken. Der Toilettentisch verschwand fast unter einem Wust von Make-up-Tuben, Cremetöpfen und anderen Kosmetika.
»Entschuldigen Sie das Durcheinander«, sagte die Frau mit einer Spur von Ironie in der Stimme. »Ich war nicht auf Besuch gefaßt.«
»Sie wollen also weg von hier?«
»Wollen? Man hat mir den Laufpaß gegeben.« Die Frau zerrte einen abgewetzten Pappkoffer unterm Bett hervor und warf ihn auf die zerwühlten Laken. Es roch nach Schweiß und Sex.
Gail spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte. Gleich würde ihr schlecht werden.
»Darf ich die Tür auflassen? Meine steht nämlich weit offen, und meine Handtasche liegt auf dem Bett. Es wär’ mir eine Beruhigung, mein Zimmer im Auge zu behalten.« Gail rang verzweifelt nach Luft. »Außerdem«, fuhr sie zögernd fort, »außerdem krieg’ ich in geschlossenen Räumen leicht Beklemmungen.«
Die Frau zuckte gleichmütig die Schultern und packte weiter. »Ja, ist mir aufgefallen, daß Ihre Tür dauernd offensteht. Was
mich angeht, ich bin lieber ungestört. Ist besser fürs Geschäft, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Arbeiten Sie schon lange als Prostituierte?« Gail bemühte sich vergeblich, ihre Naivität zu verbergen.
»Erst seit ich beim Physikum durchgefallen bin«, spottete die Frau, die jetzt die Kosmetika vom Toilettentisch einsammelte und im Koffer verstaute. »Wie heißen Sie eigentlich? Dem Typ nach müßten Sie eine Carol sein.«
Gail lächelte. »So heißt meine Schwester. Ich bin Gail.«
»Und ich Brenda. Übrigens - für’ne ›Prostituierte‹ verdien’ ich weiß Gott nicht genug. Was machen denn Sie eigentlich?«
Auf diese Frage war Gail nicht gefaßt. »Im Augenblick gar nichts, ehrlich gesagt. Ich suche eine Stelle, aber zur Zeit ist auf dem Arbeitsmarkt anscheinend alles zu.«
»Aber Sie sind doch gebildet, nicht? So wie Sie reden.«
»Nein«, widersprach Gail rasch. »Ich hab’ weder ein Examen noch ein Diplom oder so was.«
»Aber die mittlere Reife?«
Gail nickte.
»Ich hab’ mal’nen Kurs für Stenotypistinnen gemacht. Bin aber nie auf mehr als zweihundert
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