Lebenslang Ist Nicht Genug
die offene Tür. Sie abzuschließen bedeutete nur bedingten Schutz, denn das Schloß war ziemlich altersschwach. Womöglich genügte eine große Haarnadel, um es aufzubrechen. Sie schaute in ihre geöffnete Handtasche. Oder eine Kreditkarte.
Sie fuhr zusammen. Ängstlich spähte sie hinaus in den Flur, als könne dort jemand ihre Gedanken belauscht haben. Tu’s nicht, hörte sie eine schwache Stimme in ihrem Innern rufen. Geh da nicht rein. Er wird dir auflauern.
Aber ihre Füße bewegten sich wie von allein die Treppe hinunter, den Flur entlang, bis zu dem Zimmer an der Straßenseite. Und wenn er nun zurückkommt? Wenn er plötzlich auftaucht und mich dabei überrascht, wie ich seine Sachen durchwühle? Reglos blieb sie vor der Tür stehen. Sie zog die American-Express-Karte aus ihrer Brieftasche. »Das Zahlungsmittel, das Sie stets bei sich tragen sollten«, dröhnte der überschwengliche Werbeslogan in ihrem Ohr. Ich kann ihn vom Fenster aus sehen, wenn er zurückkommt, dachte sie. Außerdem werde ich die Haustür hören. Dann bleibt mir noch genügend Zeit zu verschwinden, bevor er raufkommt.
Sie schob die Kreditkarte in den schmalen Spalt zwischen Türfüllung und -rahmen und bewegte sie aufs Geratewohl hin und her, so wie sie es in zahllosen Fernsehkrimis gesehen hatte. Kein Grund zur Aufregung, redete sie sich ein und stellte gleich darauf halb enttäuscht, halb erleichtert fest, daß Aufregung schon deshalb fehl am Platz sei, weil sie nie und nimmer in dieses Zimmer gelangen würde. Im Fernsehen erschien es zwar ganz leicht, aber die Wirklichkeit sah anders aus, und das Schloß erwies sich als stabiler, als sie gedacht hatte.
Und dann gab die Tür nach.
Langsam, fast widerstrebend, schwang sie gegen die Wand zurück und forderte den Eindringling auf, einzutreten und das Geheimnis des Zimmers zu entdecken.
Gail holte tief Luft, spürte, wie ihre Knie weich wurden, und machte einen Schritt über die Schwelle.
Sie eilte ans Fenster und sah im Schutz der Gardine auf die Straße hinunter. Kein Mensch weit und breit. Trotzdem war es ratsam, sich zu beeilen. Er konnte jeden Augenblick zurückkommen. Sie durfte sich nicht lange hier aufhalten. Sie mußte methodisch vorgehen und alles wieder an den richtigen Platz zurückstellen. Er durfte nicht merken, daß jemand hier gewesen war.
Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ einen prüfenden Blick durchs Zimmer gleiten. Als erstes fiel ihr auf, wie makellos sauber, wie übertrieben ordentlich der Raum war. Das Bett hätte eine Krankenschwester nicht akkurater machen können, der billige Plastiktisch war poliert, am Lampenschirm fand sich kein einziges Staubkörnchen, und nicht einmal eine Socke lag irgendwo herum.
Was roch nur so merkwürdig? Nach einigem Schnuppern erkannte sie den starken, betäubenden Geruch eines Desinfektionsmittels. Warum hatte sie das nicht gleich bemerkt? Und wie konnte er schlafen in diesem ätzenden Gestank, der ihn einhüllte wie eine zusätzliche Decke?
Die niedrige Kommode war ebenso blank poliert wie das Tischchen. Es standen weder Bilder darauf noch Flaschen. Keine Bürsten oder Kämme - nichts als eine spiegelnde Platte, in der sie beinahe ihr Gesicht sehen konnte.
Ein Geräusch schreckte sie auf, und als Gail ans Fenster stürzte, riß sie die Lampe um, die polternd gegen die Wand fiel. »O Gott«, seufzte sie. Draußen vor dem Eingang stritten die beiden Schnapsbrüder aus dem Erdgeschoß sich darum, wem der erste Schluck aus der gerade organisierten Flasche gebühre. Rasch stellte Gail die Lampe wieder an ihren Platz. Ihr Atem kam stoßweise. Furcht und Panik hatten sie erfaßt.
Im Lampenschirm war eine kleine Delle. Einem normalen Menschen würde das vielleicht gar nicht auffallen, aber ihr war inzwischen klar, daß sie es mit keinem Normalen zu tun hatte. Der Junge würde die Delle sofort entdecken und daraus schließen, daß jemand in seinem Zimmer herumgeschnüffelt hatte. Mit fliegender Hast bemühte sie sich, den Schaden zu beheben. Sie mahnte sich zur Ruhe, versuchte sich klarzumachen, daß sein Verdacht höchstwahrscheinlich auf die Wirtin fallen würde und nicht ausgerechnet auf sie. Gail verlor kostbare Zeit mit dem Versuch, den Lampenschirm auszubeulen. Es gelang ihr zwar, die Delle ein wenig auszugleichen, aber sie wußte, daß das nicht genügte. Schließlich stellte sie die Lampe auf den Tisch zurück, mit der Delle zur Wand. So würde er sie vielleicht doch übersehen.
Sie öffnete den Schrank. Die zwei
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