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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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vertieft, um Gails Ausrutscher zu bemerken. Gail wischte sich mit dem Handrükken die Schweißperlen von der Oberlippe. Sie würde in Zukunft vorsichtiger sein müssen. Ein törichter Versprecher wie dieser
konnte all ihre sorgfältigen Pläne zunichte machen. Sie stand so abrupt auf, daß der Hund hochschrak und die Zähne fletschte, als wolle er ihr jeden Augenblick an die Kehle springen.
    »Platz, Rebecca!« kommandierte Roseanne, und langsam ließ das geschmeidige Tier sich wieder zu Boden gleiten.
    »Mir ist ein bißchen schwindlig. Ich sollte vielleicht für’ne Weile an die frische Luft«, sagte Gail.
    »Sie sind mir keine Erklärung schuldig. Ich bin ja nicht Ihre Mutter.«
    »Danke für den Tee.«
    Roseanne winkte ab, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. Gail sah sich noch einmal im Zimmer um, ehe sie hinaus in den Flur ging und die Tür hinter sich schloß. Sie schaute auf die Uhr. Es war fast drei. Zeit, sich auf den Heimweg zu machen.
    An der Haustür stieß sie mit einem jungen Mann zusammen. Er war kaum über zwanzig und hatte einen unmodernen Bürstenschnitt. Sein Haar war so kurz, daß man die Farbe kaum erkennen konnte. Mit gesenktem Blick schob er sich an Gail vorbei und steuerte zielstrebig auf die Treppe zu. Sie war nicht sicher, ob er sie überhaupt bemerkt hatte. Gail horchte auf seine Schritte, während er mit seinen schweren Stiefeln die Treppe hinaufhastete, immer zwei Stufen auf einmal. Als er über ihr den Flur entlangging, war ihr, als halle das Gewicht seiner Tritte in ihrem Kopf wider. Sie riß die Tür auf und stürzte aus dem Haus. Die Luft war kühler und feuchter als am Morgen. Sie drehte sich um. Seine Schritte hatten ihr verraten, daß der junge Mann in einem der Zimmer wohnte, die zur Straße hin lagen. Gail spähte an der Hauswand hinauf. Er beobachtete sie vom Fenster aus. Doch als sie zu ihm hochschaute, verschwand er hinter dem Vorhang. Gail zögerte einen Moment, dann machte sie kehrt und ging zu ihrem Wagen zurück. Während sie die Straße entlangschlenderte, spürte sie die Blicke des Jungen im Rücken.

17
    Vier Tage vergingen, ehe sie den jungen Mann wiedersah. Sie hatte sich angewöhnt, ihre Zimmertür in der Pension nur anzulehnen, damit sie auf Geräusche aus den anderen Räumen achten und die Haustür hören konnte. Gewöhnlich war es geradezu unheimlich still im Haus. Außer Schritten und Türenschlagen hörte man so gut wie nichts. Manchmal klangen Schimpfworte aus der Halle herauf, oder auf der Treppe entbrannte ein Streit, aber meist herrschte Grabesstille. In Gedanken summte Gail »The Sounds of Silence« vor sich hin. In den vier Tagen, die sie hier verbracht hatte, war es ihr nicht gelungen, mit einem der anderen Logiergäste mehr als ein paar belanglose Worte zu wechseln. Sie ging morgens gegen zehn hinauf in ihr Zimmer und wanderte zwischen Stuhl und Bett hin und her, bis es Zeit war fürs Mittagessen. Nach etwa einer halben Stunde kam sie zurück und vertrieb sich die Zeit bis zur Heimfahrt um drei so gut es ging. Sie prägte sich jeden, der in der Pension wohnte, genau ein. Von Leuten, deren Namen sie nicht wußte, merkte sie sich die Zimmernummern. Auf der ersten und zweiten Etage waren jeweils fünf Zimmer, im Erdgeschoß dagegen nur zwei, weil Roseannes Apartment relativ viel Platz beanspruchte. Die Pension konnte also zwölf Gäste aufnehmen.
    Die Zimmer im Erdgeschoß bewohnten zwei alternde Schnapsbrüder mit ungewaschenem langem Haar, ungepflegtem Bart und stets finsterer Miene. Wenn Gail morgens kam, saßen die beiden nebeneinander auf den Stufen, die zur Haustür hinaufführten. Zu ihrer Verwunderung lüfteten sie jedesmal mit altmodischer Galanterie den Hut, wenn Gail vorbeiging. Aber als sie am dritten Tag den Versuch machte, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, fragte, wie lange sie schon hier wohnten und was sie von den anderen Gästen hielten, da schauten die beiden sie an, als spräche sie eine fremde Sprache, und setzten dann ihre seltsame,
bruchstückhafte Unterhaltung fort, als sei Gail überhaupt nicht vorhanden.
    Die Gäste im ersten Stock hatten seit Gails Einzug schon fast alle gewechselt. Es handelte sich in der Regel um Vagabunden und Arbeitslose, Männer zwischen zwanzig und fünfzig Jahren. Aber gestern war ein merkwürdiges Paar unbestimmbaren Alters eingezogen, das nicht recht zusammenzupassen schien.
    Der junge Mann, dem Gail am ersten Tag begegnet war, wohnte nach wie vor im ersten Stock in dem Zimmer mit Blick auf die

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