Lebenslang Ist Nicht Genug
Tür zuschlagen.
18
Als sie am nächsten Morgen in die Pension kam, war der Junge ausgezogen.
»Was soll das heißen, er ist weg?« wollte Gail von Roseanne wissen, die das Bett in seinem Zimmer frisch bezog.
»Er ist in aller Frühe abgehauen.«
»Hat er Ihnen gesagt, wo er hinwollte?«
Roseanne bedachte Gail mit einem Blick voller Lebensüberdruß und schwieg. Enttäuscht sah Gail sich in dem leeren Zimmer um. Der Schrank war offen, die Hosen waren verschwunden, ebenso wie die ordentlichen Wäschestapel aus der Kommode. Roseanne steckte träge die Laken fest, warf das Kissen ans Kopfende und rollte nachlässig die billige blaugeblümte Tagesdecke darüber. »Eins muß man ihm lassen, er war pieksauber. Seine Sachen rochen immer so frisch. Mieter wie ihn verliere ich ungern. Er war ruhig und zurückhaltend, und immer allein, hatte nie Besuch.«
Gail spürte einen stechenden Schmerz in der Magengrube. Er war fort. Sie hatte ihn aus den Augen verloren. »Hat er gesagt, warum er auszieht?«
Die Hauswirtin zuckte mit den Schultern, machte sich aber nicht die Mühe zu antworten.
»Wie hieß er denn? Kennen Sie seinen Namen?«
Roseanne sah unverwandt zur Decke hinauf, als betrachte sie einen Riß im Verputz. »Ich glaub’ nicht, daß er mir gesagt hat, wie er heißt. Und ich hab’ wohl auch nicht danach gefragt. Wozu auch? Sie sagen einem ja doch nie ihren richtigen Namen.«
»Haben Sie sich überhaupt mal mit ihm unterhalten?«
Roseanne wandte sich Gail wieder zu. »Weshalb hätte ich das tun sollen?«
Jetzt war es an Gail, die Achseln zu zucken.
»Warum interessieren Sie sich so für den Jungen?«
»Ach, ich interessiere mich überhaupt sehr für Menschen. Es macht mir Spaß, die Leute zu beobachten und rauszukriegen, was sie in Schwung hält, warum sie bestimmte Dinge tun und andere unterlassen. Stille Wasser sind manchmal die interessantesten Typen, einfach weil man mit ihnen die meisten Überraschungen erlebt. Man kommt und kommt nicht dahinter, was sie denken.«
»Mich hat’s nie gekümmert, was die Leute denken.«
»Ich find’s spannend.« Gail versuchte, das Gespräch in Gang zu halten. »Man liest doch ständig von irgend’nem geistesgestörten kranken Mörder in der Zeitung. Die Polizei verhört all seine Freunde und Nachbarn, und die lassen sich darüber aus, wie ruhig er war, daß er immer für sich allein lebte und sie eigentlich nie wußten, was in seinem Kopf vorging. Sie sind immer völlig sprachlos, wenn sich herausstellt, daß dieser unauffällige Mann in seiner Freizeit Leute umbrachte.« Roseanne warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Die ruhigen Typen muß man im Auge behalten.« Gail lachte gezwungen.
»Na, dann brauchen wir uns um Sie ja keine allzu großen Sorgen zu machen.« Roseanne wandte sich zum Gehen. »Wollen Sie das Zimmer haben?«
»Wie?«
»Ob Sie das Zimmer möchten, hab’ ich gefragt. Es ist freundlicher als Ihres, weil’s zur Straße rausgeht, statt zum Hinterhof. Allerdings ist es dafür’n bißchen lauter...«
»Nein, ich will das Zimmer nicht«, unterbrach Gail sie rasch. »Ich muß nämlich auch ausziehen. Und zwar heute schon.«
Roseanne zwängte sich an ihr vorbei und trat hinaus auf den Flur. »Halten Sie das, wie Sie wollen, aber Ihr Geld kann ich Ihnen nicht zurückgeben.«
»Haben Sie wirklich keine Ahnung, wo er hinwollte?«
Roseanne wandte sich um. »Er mußte noch’n paar Leichen beiseite schaffen, das hat er erwähnt.« Ihr glucksendes Lachen hallte im Treppenhaus wider, bis sie in ihrer Wohnung verschwand. »Ich glaube, Sie sehen zuviel fern«, rief sie Gail noch zu, ehe sich die Tür hinter ihr schloß. Ein paar Minuten später stand Gail draußen auf der Straße. Wo mochte er hingegangen sein? Welches Haus hatte er sich ausgesucht? Bestimmt hatte er gemerkt, daß jemand in seinem Zimmer gewesen war. Welches Geheimnis trug er mit sich herum? In welche Richtung mochte er gegangen sein? Wie ein Polizist auf Streife machte Gail die Runde durch das heruntergekommene Viertel. Von welchem Fenster sah er wohl jetzt auf sie hinunter?
Der Tag hatte nicht gut angefangen. Sie hatte schlecht geschlafen und sich am Morgen wie zerschlagen gefühlt. Jennifer war schlechtgelaunt am Frühstückstisch erschienen und hatte beim Essen so lange getrödelt, daß sie überstürzt aufbrechen mußte, um nicht zu spät zur Schule zu kommen. Jack hatte spürbar gereizt, ja verärgert reagiert, als sie sich erneut weigerte, ihn zum nächsten Treffen des
Weitere Kostenlose Bücher