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Lebenslang Ist Nicht Genug

Titel: Lebenslang Ist Nicht Genug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joy Fielding
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Paar frisch gebügelten Hosen waren zwar alt und abgetragen, aber so sorgsam aufgehängt, als handele es sich um teure Exportartikel aus Italien oder Frankreich. In einer Ecke standen unauffällig eine große Flasche Lysol und eine kleine Spraydose mit einem anderen Desinfektionsmittel.
    Der Junge war gestört, daran bestand kein Zweifel. Aber war er so krank, daß er ein sechsjähriges Kind vergewaltigt und getötet hätte?

    Gail trat an die Kommode und zog die oberste Schublade auf. Sie war vollgestopft mit dicken schwarzen Socken. Gail sah die einzelnen Stapel durch. Es waren mindestens fünfzig Paar, alle gleich, alle ordentlich zusammengerollt, und alle dufteten nach Weichspüler.
    In der zweiten Schublade bewahrte er seine Unterhosen auf. Genau wie die Socken waren auch sie ordentlich zusammengefaltet und gestapelt, jeweils fünf Jockey-Shorts auf einem Stoß. Gail zählte insgesamt sechs solcher Stapel.
    In der dritten Schublade lagen die Unterhemden. Wieder waren schön säuberlich je fünf aufeinandergeschichtet. Alle waren weiß und hatten V-Ausschnitt. Drei Stapel.
    Die unterste Schublade enthielt zwei Oberhemden, ein schwarzes und ein blau-grau kariertes. Sie lagen nebeneinander, die Kragen frisch gebügelt, die Taschen leer, die Ärmel nach innen gefaltet.
    Gail achtete sorgfältig darauf, daß jedes Kleidungsstück wieder genauso dalag wie zuvor, ehe sie sich der nächsten Schublade zuwandte. Im selben Moment, indem sie die unterste Schublade schloß, hörte sie Schritte auf der Treppe.
    Sie war so in ihre Suche vertieft gewesen, daß sie auf kein Geräusch geachtet hatte. Und jetzt kam jemand die Treppe herauf. Sie konnte nicht mehr entwischen, es war zu spät. Sie saß in der Falle.
    Die Schritte hielten inne. Jetzt war er draußen auf dem Flur. Er lauerte ihr auf. Gail stand wie gelähmt mitten im Zimmer. Dann hörte sie Schlüssel klirren. Am anderen Ende des Gangs wurde eine Tür aufgesperrt. Sie wartete, bis die Tür ins Schloß fiel. Dann brach sie in Tränen aus.
    Hör auf zu weinen! Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen von den Wangen, dann sah sie sich ein letztes Mal im Zimmer um. Wonach hatte sie eigentlich gesucht? Hatte sie etwa gehofft, den konkreten Beweis dafür zu finden, daß dieser Mann ihre Tochter umgebracht hatte? Hatte sie von einem Indiz geträumt,
das ihn als den entlarvte, für den sie ihn hielt? Das Zimmer verriet ihr nichts weiter, als daß sein Bewohner ein Reinheitsfanatiker war, und gemessen an dem, was sie gelesen hatte, gehörte dieser Tick entschieden zu den harmloseren. Vielleicht ist er ein Voyeur, dachte sie, schon auf dem Weg zur Tür. Mach, daß du raus kommst, befahl ihre innere Stimme, doch ihr Blick kehrte zurück zum Bett. Darunter hatte sie noch nicht nachgesehen. Raus hier, schnell, flehte die Stimme.
    Gail ging entschlossen auf das Bett zu, kniete nieder und tastete mit der Hand den Boden ab. Sie stieß gegen etwas Hartes. Wieder ein Stapel, diesmal Zeitschriften. Gail erriet sofort, um welches Genre es sich handelte. Es waren die gleichen, die sie schon in jenem schrecklichen Laden gesehen hatte. Rasch durchblätterte sie das oberste Heft, starrte auf Fotos von gefolterten und verstümmelten Frauen. »O mein Gott«, stöhnte sie. Als sie die Magazine wieder unters Bett schob, wurden vor dem Haus aufgeregte Stimmen laut.
    Er war zurückgekommen! Gail wußte es, noch ehe sie aus dem Fenster schaute. Er stritt sich mit den Schnapsbrüdern herum und versuchte sich an ihnen vorbeizudrängen. Aber sie waren störrisch und versperrten ihm den Weg. Ärgerlich blickte der Junge nach oben. Gail schrak zurück und preßte sich gegen die Wand. Hatte er sie gesehen? War sie schnell genug gewesen?
    Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie stürzte aus dem Zimmer. Als sie die Tür hinter sich schloß, hörte sie unten die Haustür aufgehen. Sie würden sich im Flur begegnen, und Gail wußte nicht, wohin sie sich wenden sollte. Sie entschied, es sei verdächtiger, hinaufzulaufen. Wenn sie hinunterging, hatte sie immerhin eine Chance.
    Als sie auf dem Treppenabsatz zusammentrafen, beachtete er sie ebensowenig wie bei ihrer ersten Begegnung vor vier Tagen. Gail war sich nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gesehen hatte. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, den Blick fest auf seine blankgeputzten braunen Lederstiefel gerichtet,
ging er an ihr vorbei, als sei sie Luft. Gail klammerte sich haltsuchend ans Geländer. Endlich hörte sie seine

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