Lebensversicherung (German Edition)
keine besonderen
Rücksichten, denn danach ist nichts mehr zu verwenden.
Schmid hob die rechte Hand und legte seinen Daumen unter die
zweiten Fingerglieder des Zeige- und Mittelfingers.
- Aber bei der Spritze. Kontakt zu Angehörigen gibt es nur
durch Glasscheiben, eine Berührung ist nicht erlaubt. Es könnten ja Krankheiten
übertragen werden. Selbst bei der Hinrichtung bleiben die Angehörigen hinter
Scheiben. Das Risiko einer Ansteckung bleibt bis zur letzten Minute
kalkulierbar, weil nur wenige tatsächlich mit den Todeskandidaten in Berührung
kommen. Und deren Krankheiten sind bekannt.
Denkt mal an die Tucker, die das Sweetheart vom Todestrakt
genannt wurde. Sie heiratete den Gefängnispfarrer Dana Brown 1995. Er sagte:
`Wir haben uns niemals umarmen oder küssen können´.
Ich habe mich immer gefragt, warum sie ihn geheiratet hat. Ob
sie sich dadurch Hoffnung auf Begnadigung machte?
Diese langen Jahre. Da wirst du doch wahnsinnig,
geisteskrank, psychopathisch. Und weil du das wirst, widersprichst du auch
nicht mehr.
Irgendwann kommt der Tag, an dem der Direktor dir deinen
Termin bringt. Dann hast du noch ein paar Tage, bis du in den unmittelbaren Todestrakt
gebracht wirst.
Dort wirst du an Händen und Füßen gefesselt gehalten und rund
um die Uhr bewacht. Warum? Damit du dir nichts antust. Du bist jetzt zu wichtig,
denn die Strafe muss an dir vollstreckt werden. Du darfst dich nicht einfach
abmachen. Nein, denn die Rache ist etwas Edles.
Schmid spuckte ins Wasser.
- Und dann, nachdem du das letzte Mal mit deinen Angehörigen
telefoniert hast, dein Henkersmahl gegessen hast, in dem vielleicht etwas zur
Beruhigung war, dann fragen sie dich, ob du nicht deine Organe spenden
möchtest. Du kannst damit einen Teil deiner Schuld gut machen, überreden sie
dich, du kannst ein Leben retten, für das, was du genommen hast.
Du sagst ja.
Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht bist du Buddhist oder
möchtest aus anderen Gründen nicht? Dann sagst du nein, und sie versprechen dir
einen langsamen und qualvollen Tod.
Sie überreden dich. Sie sagen, dass es schneller gehen würde,
dass du keine Schmerzen leiden würdest, wenn du ja sagst.
Und dann sagst du ja.
Schmid stand auf und ging nach vorn. Ich blieb sitzen und es
fiel mir leicht, mir vorzustellen, dass es tatsächlich so sein könnte.
Schmid kam zurück.
- Was will der denn sonst machen? Er hat keinen Kontakt mehr
zu anderen. Er hat Angst und ringt um seine Fassung. Es bleiben ihm nur noch
ein paar Minuten. Nur der Direktor, sein geistlicher Beistand und die Wärter,
die zum Exekutionsteam gehören, sind da. Er darf nichts niederschreiben, ein
Testament kann zensiert werden.
Selbst wenn er nein sagt, sie machen´s trotzdem. Warum auch
nicht? Sagen, er hat ja gesagt. In letzter Minute. Alle Beteiligten haben
Schweigepflicht, und die Ärzte, die sich später um seine Leiche kümmern, wissen
nichts. Er hat doch Ja gesagt. Sein Einverständnis liegt vor, dem Kodex ist
genüge getan. Alles o.k.!
Charlie zitterte.
- Und wenn sie ihn nicht fragen?
- Dann fragen sie ihn nicht.
Schmid machte große Augen.
- Müssen sie ihn denn fragen?
Charlie setzte sich auf und legte die Hände unter ihre
Oberschenkel. Das tat sie immer, wenn sie am liebsten aufgesprungen wäre.
- Mein Gott!
Schmid fuhr fort.
- Und wisst ihr was? Ich habe mich immer gefragt, warum
manchmal noch in letzter Minute ein Vollstreckungsaufschub gewährt wurde.
Manche haben mehrere, bis zu zehn Hinrichtungstermine in den Jahren erhalten.
Es gibt einen, der sitzt schon 24 Jahre in der Todeszelle und wartet.
Jedes Mal wurden sie in die Zellen gebracht, von denen es zur
Hinrichtung geht, und dann kam der Aufschub vom Gouverneur. Warum? Brauchten
sie die Organe doch nicht? Oder noch nicht?
Es gab da einen James Autry, der 1984 in Texas durch die
Spritze hingerichtet wurde. Bereits vier Monate vorher lag er auf der Pritsche.
Festgeschnallt erlebte er die Vorbereitungen für seine Hinrichtung. Die
Salzlösung lief schon durch seinen Körper, als er die Nachricht vom
Vollstreckungsaufschub erhielt. Was war passiert? Brauchte man ihn noch nicht?
Brauchte man seine Organe später?
Und dann die Tucker. Wer hat sich nicht alles für sie
eingesetzt. Sogar die Kirche von dem rechtskonservativen Fernsehprediger und
ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Pat Robertson. Selbst er mit seinen
Hunderttausenden von potentiellen Wählerstimmen konnte keine Begnadigung bei Gouverneur
Bush erreichen.
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