Lebensversicherung (German Edition)

einigen Minuten eine
Wirkung erzielen, indem genug Muskelkraft aufgebaut wird, um ein normales
Minutenvolumen zu erhalten.
    Neostigmin ist eine Anticholinesterase, die Acetylcholin
bereitstellt, welches an der neuromuskulären Endplatte wirkt. Der Muskel
arbeitet wieder.
    Gerade Neostigmin wird bei langen Operationen eingesetzt, wo
Infusionstechniken verwendet werden. Es ist besonders wertvoll, weil der Grad
der Muskelblockade zum Zeitpunkt der Neostigminapplikation keinen Einfluss auf
die Antagonierungszeit hat.
    Schmid sah mich an.
    - Hast du das verstanden?
    Ich nickte.
    - Auch wenn du nickst.
    Nochmal.
    Ganz einfach.
    Der Delinquent ist tot, denn sein Hirn ist tot.
    Aber seine Organe - wie ich schon sagte, die Schlüsselorgane
wie Herz oder Nieren - blieben unbeschädigt.
    Er ist für eine unmittelbare Transplantation bestens
geeignet.
    Nachdem laut EKG der Tod eingetreten ist, kann sofort
Neostigmin gegeben werden. Nach fünf Minuten tritt seine Wirkung ein. Die
Zeugen sind weg, und der Hingerichtete kommt an die Dialyse. Sein Blut wird
gereinigt, die Muskelblockade ist aufgehoben, und das Herz schlägt wieder. Wenn
nötig, kann er künstlich beatmet werden, oder das Blut wird durch
Kühlflüssigkeit ausgetauscht.
    Nur das Hirn ist tot, und deshalb ist er tot. Der Rache ist
genüge getan, und das Urteil vollstreckt. Mit funktionstüchtigen Organen kommt
er in die Autopsie und das Ausnehmen beginnt. Ich würde mich nicht wundern,
wenn nebenan schon der Transplantationspatient liegt.
    Schmid zeigte auf die Bibel.
    - Ein Leben für ein Leben, sei es mit Herz oder Niere. Denk
nochmal an den Exodus. Auge um Auge, Blut um Blut, wie es das Alte Testament
fordert.
    Glaub mir, jeder mit der Spritze Hingerichtete kommt
ausgeweidet ins Grab.
     
    Ich glaubte ihm, und dachte mir, dass das alles eigentlich
ganz logisch ist.
    Dort, wo man die Bibel wörtlich nimmt.
    Oder den Utilitarismus zur Tugend erhebt.
     
    - Aber lass´ mich nochmal auf den Hirntod eingehen.
    Schmid nahm wieder ein Blatt aus dem Ordner.
    - Ich habe hier die `Kriterien des Hirntodes´, wie ihn der
Wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer definierte. Nämlich als Zustand
des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des
Kleinhirns und des Hirnstamms bei einer durch kontrollierte Beatmung noch
aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion.
    Merkst du ´was? Wie bei unseren Hingerichteten. Wenn das Hirn
tot ist, ist auch der Mensch tot, auch wenn die Herz-Kreislauffunktion noch
aufrechterhalten wird. Die Ärzte haben da kein Problem.
    Nur Gegner dieser Hirntoddefinition haben eins. Sie gehen
davon aus, dass das menschliche Empfinden mit dem Tod des Gehirns nicht
erloschen ist. Sie glauben, dass auch untergeordnete Strukturen zu
differenzierten Wahrnehmungen fähig sind, dass eine bleibende Bewusstlosigkeit
allein noch nicht den Tod des Menschen ausmacht.
    Vielleicht spürt er noch Schmerz oder Berührung?
    Wer weiß das?
    Vielleicht ist der Verdacht nicht grundlos, dass der
künstlich unterstützte oder künstlich hervorgerufene Zustand des komatösen
Patienten noch ein Restzustand von Leben ist?
    Vielleicht ist er ohne Gehirnfunktion noch nicht ganz tot?
    Allerdings konnte weltweit kein einziger Fall nachgewiesen
werden, wonach nach Hirntodfeststellung ein Überleben beobachtet wurde.
    Natürlich, intensivmedizinische Maßnahmen und künstliche
Beatmung verhindern den gleichzeitigen Funktionsausfall der übrigen Organe.
    Ohne umfassende Gewalteinwirkung stirbt der Mensch nicht
sofort, sondern sozusagen in mehreren Phasen. Das Versagen eines einzelnen
Organes zwingt nach und nach die anderen, ihren Dienst aufzugeben. So ist das.
Heute jedoch lässt sich jedes Organ zumindest eine Zeit lang durch Apparate
ersetzen, ja Schwangerschaften lassen sich sogar in Hirntoten austragen.
    Der Mensch gilt als lebendig bis zum endgültigen Stillstand
des Blutkreislaufes, bis zum Beginn der Verwesung. Das ist meine Definition.
Die Betonung liegt hier auf endgültig. Aber endgültig tote, verwesende Organe
kann man nicht transplantieren, sie müssen lebendig verwendet werden, also bei
lebendigem Leibe herausgenommen werden –
    Schmid schüttelte unwillig den Kopf. Er merkte, dass er hier
in einem Dilemma steckte.
    - Was aber, wenn der Kreislauf wieder angeschmissen wird? Wie
es bei unseren Exekutierten denkbar ist? Hm? Was dann? Dann ist er wieder
lebendig, oder nicht?
    Er rollte sein Papier zusammen und sah mich durch das Rohr
an. Er legte es zur