Lebt wohl, Genossen!
umfangreichen Lagersystem in entlegenen Provinzen, eine ständige Drohung gegenüber politischen Dissidenten oder kritischen Intellektuellen. Die Arbeit dieses «Organs», die unter Stalin Millionen Todesopfer zur Folge hatte, wurde jetzt unter der Führung von Jurij Andropow praktisch blutlos verrichtet, mit kalter, genau berechneter Gewalt.
Das Dissidentenehepaar Podrabinek. Der Mann, Alexander, studierter Feldscher, entlarvte in seinem Buch die psychiatrische Zwangsbehandlung von Andersdenkenden in der Sowjetunion und wurde deswegen ins Lager eingeliefert
D ER U MGANG MIT DEM D ISSENS
Im Jahre 1976 befanden sich laut geheimer KGB-Statistik insgesamt 851 politische Gefangene in Kerkern («isoljatory») und Lagern. 68.000 Menschen wurden der «antisowjetischen Propaganda» verdächtigt und waren als sogenannte «politisch gefährliche Elemente» registriert, ohne dass gegen sie ein Verfahren eingeleitet worden wäre. Offensichtlich suchte das System politische Prozesse weitgehend zu vermeiden, denn auch geschlossene Verhandlungen konnten in die westliche Öffentlichkeit kommenund das Image des Regimes schädigen. So versuchte man die Menschenrechtsbewegung mit polizeilichen Mitteln unter Druck zu setzen bzw. aus dem Land zu vertreiben. Man wollte «keine Märtyrer produzieren» und produzierte dennoch genug, um die Gesichter dieser kämpfenden Minderheit weltweit bekannt zu machen.
Smolensk: Eine der vielen «Spezialkliniken», in denen Zwangspsychiatrie gegen Dissidenten angewandt wurde
Zur Zeit des Helsinki-Abkommens gelang es dem seit 1967 von Jurij Andropow gelenkten KGB vor allem, die erste Welle der demokratischen Bewegung aufzulösen. Kaum ein Jahr nach der Konferenz-Schlussakte versammelten sich in der Wohnung des Atomphysikers Andrej Sacharow und seiner Frau Jelena Bonner in der Moskauer Tschkalowstraße die Führer einer Gruppe zu einer Pressekonferenz. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, die Einhaltung des Helsinki-Abkommens seitens der UdSSR zu beobachten. Formal war dieses Vorgehen legitim, denn die KSZE hielt eine solche Kontrolle für notwendig und bereitete zu diesem Zweck sogar die erste Nachfolgekonferenz in Belgrad vor. Heikel für die Sowjetregierung waren vor allem die Punkte des Abkommens, die sich auf den sogenannten«dritten Korb» (Menschenrechte, Reisemöglichkeiten, Glaubensfreiheit) bezogen. Die Moskauer Helsinkigruppe und ähnliche Gruppen in Kiew und Tiflis bestanden aus einer Reihe von außergewöhnlichen Persönlichkeiten – dem Mathematiker Jurij Orlow, der Historikerin Ljudmila Alexejewa, dem Arbeiter Anatolij Martschenko und dem General a. D. Pjotr Grigorenko. Letzterer engagierte sich vor allem für die 1944 auf Stalins Befehl nach Sibirien und Zentralasien deportierten Krimtataren. Deren Rückkehr durchzusetzen war das erste Anliegen der Helsinki-Gruppe. Eine spezielle Untergruppe beschäftigte sich mit der Verfolgung von Andersdenkenden in der Psychiatrie – über dieses Thema schrieb Alexander Podrabinek das Buch «Strafmedizin».
Die Behörden reagierten auf die neue Welle der demokratischen Opposition einerseits mit erhöhtem Terror, etwa dem spektakulären Prozess gegen Jurij Orlow oder der dritten Gefängnisstrafe für Martschenko, andererseits mit Zwangsausbürgerungen. Davon waren zum Beispiel Leonid Pljuschtsch und Ljudmila Alexejewa betroffen. Der spektakulärste Fall war zweifelsohne 1976 der Austausch des Dissidenten Wladimir Bukowskij, der zuvor zwangspsychiatrisiert worden war, gegen den chilenischen KP-Chef Luis Corvalán, der seit dem Putsch vom Herbst 1973 in Pinochets Gefängnis saß. Da Bukowskij in den sowjetischen Medien als «Hooligan» verunglimpft worden war, reagierte der derbe Volkshumor auf die Aktion mit einem Spottgedicht, das Leonid Breschnew zum Ziel hatte: «Frei ist nun der Hooligan/im Tausch mit Luis Corvalán./Ist keine Schlampe in der Ferne?/Wir tauschen gegen Ljonja gerne.»
D IE A NTRAGSTELLER NACH P UNKT 5
Neben den nicht sehr zahlreichen sowjetischen Dissidenten – sie selbst definierten sich als «prawosaschtschitniki» (Rechtsschützer) – bereitete ein Phänomen dem Regime viel mehr Kopfzerbrechen: die Auswanderungsbewegung hauptsächlich jüdischer Sowjetbürger, aber auch der deutschen Minderheit. Die lange Schlange der Ausreisewilligen vor dem Haus des Passamtes auf der Altmoskauer Straße Kolpatschnyj pereulok brachte die Behörden in eine prekäre Lage. Einerseits war die Ausreisebewegung durch Verbot oder Druck auf Einzelne
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