Lebt wohl, Genossen!
den Prinzipien des Sozialismus fest, aber die Ideologie des «Marxismus-Leninismus» war weitgehend ausgehöhlt.
Die Entpolitisierung der Gesellschaft ging mit einer zunehmenden Befriedigung von Konsumwünschen bei minimalen Preiserhöhungen einher. Darauf hofften die Machthaber bis in die späten Achtzigerjahre hinein. So behauptete Miloš Jakeš, einer der Parteiführer: «Der Fleischkonsum in der Tschechoslowakei liegt bei neunzig Kilogramm pro Einwohner und steigt ständig. Die Leute fressen in sich hinein, was geht, und verlangen immer mehr; zur Arbeit haben sie aber immer weniger Lust. Solange die Läden voller Waren sind, braucht man nichts zu befürchten.»
Dennoch entstand hier als Folge des Helsinki-Vertrages eine Menschenrechtsbewegungmit dem Namen Charta 77. Es handelte sich dabei um eine Koalition von Reformkommunisten (Jiři Hájek), bürgerlichen Intellektuellen (Jan Patočka), Literaten (Václav Havel) und Wissenschaftlern. Eine Besonderheit war, dass es im Unterschied zu anderen dissidentischen Bewegungen vergleichsweise viele Frauen gab, die auch sichtbar wurden, etwa als Sprecherinnen der Charta (Eva Kantůrková, Anna Šabatová). Die erste Petition der Gruppe entstand als Protest gegen die Verhaftung der Popband «Plastic People of the Universe», die durch ihre illegalen Konzerte zum Geheimtipp der immer schwerer zu kontrollierenden Jugend wurde. Obwohl der Geheimdienst massiven Druck auf die Chartisten ausübte – so wurde sogar ihren Kindern die Aufnahme in die Hochschulen verweigert –, gelang es ihm nicht, die Bewegung zu stoppen.
Die Trennlinie zwischen Österreich und der ČSSR
Auf Wiedersehen im Jahr 1978
D IE «LUSTIGSTE BARACKE IM L AGER» – K ÁDÁRS U NGARN
Ungarn war eindeutig ruhiger als die DDR oder die ČSSR. Parteichef Kádár gelang es durch eine geschickte Koppelung von Druck und Zugeständnissen, seinen «Gulaschkommunismus» zu etablieren. Allerdings kostete in den Siebzigerjahren selbst das Gulasch zu viel, mit dem der Kommunismus dem Volk schmackhaft gemacht werden sollte. Die Schulden der Volksrepublik stiegen jährlich, die Pro-Kopf-Verschuldung der Bevölkerung war sogar noch höher als die in Polen. Auch hier erschien Anfang Januar 1977 eine Gruppe auf der Bildfläche, die sich als demokratischeOpposition bezeichnete – der Bekannteste unter ihnen war der Autor György Konrád, dessen öffentliche kritische Auftritte im Westen und zu Hause die Behörden scheinbar machtlos erdulden mussten. Die Kultur in Ungarn war relativ frei, trotz vorhandener Zensur war die staatliche Ideologie nicht dominierend: Für Film, Musik und Literatur gab es erstaunliche Möglichkeiten. Die Jugend feierte neue Bands wie «Komitee», «Beatrice», «Kontrollgruppe» oder die «Rasenden Leichenbeschauer», deren Publikum nach den Konzerten von der Polizei manchmal mit Gummiknüppeln traktiert wurde, die aber selbst unbehelligt blieben.
Flugparade in Budapest. Hochrangige Gäste, darunter der Verteidigungsminister Lajos Szinege, und was sie ansehen
Eine andere, in den Augen sowjetischer und heimischer Beobachter viel gefährlichere Strömung bildeten die sogenannten «Tanzhäuser», die in Anlehnung an die ungarische Tradition den Hang zum Nationalen verkörperten. Ohnehin fühlten sich die Machtorgane vor jedem halbwegs runden Jahrestag des Volksaufstands von 1956, so zum Beispiel 1976 und 1981, zur Mobilisierung gezwungen. Zudem wurde das Nationalgefühl durch die Diskriminierung der ungarischen Minderheit in den Nachbarstaaten, vor allem in Ceauşescus Rumänien, zusätzlich angeheizt und wirkte so weiterhin beunruhigend.
Kinder tanzen und singen zu Ehren des Conducators
D AS L AND, DAS AUS DER R EIHE TANZTE – R UMÄNIEN
Die Führung der Sozialistischen Republik Rumänien wollte vielleicht mit ihren orthodoxen Prinzipien und harten Methoden eigentlich den Sowjets imponieren. Doch nichts dergleichen realisierte sich: Der Zwanzig-Millionen-Staat tanzte fortwährend aus der Reihe. Zum einen gab es besondere Kontakte mit dem Westen und zur Bewegung der «Blockfreien» in der Dritten Welt, die Rumänien fast zu einem «korrespondierenden Mitglied» des Warschauer Vertrages machten. Gleichzeitig erschien Ceauşescus Herrschaftsform selbst für sowjetische Verhältnisse zu feudal, dynastisch und despotisch. Auch im Westen wuchsen inzwischen gewisse Vorbehalte gegenüber dem halbgottähnlichen Status des Diktators, für den sein Hofdichter Paunescu regelmäßig Massenhuldigungen
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