Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
und setzt seinen qualvollen Weg fort. »Außerdem wäre das ja wohl eine ziemlich erbärmliche Prügelei geworden. Der konnte ja kaum noch stehen.«
Ich schüttele den Kopf und beschließe, ihn nicht auf die Ironie hinzuweisen.
Eine weitere Gruppe betrunkener Soldaten stolpert lärmend an uns vorbei. (Sieben Kadetten, zwei Lieutenants, alle tragen goldene Armbinden mit Dakota-Abzeichen, was bedeutet, dass sie erst vor Kurzem aus dem Norden angekommen sind und ihre Binden noch nicht gegen die ihres neuen Bataillons eingetauscht haben.) Sie haben die Arme um ihre Begleiterinnen aus dem Bellagio-Club geschlungen – paradiesvogelbunt zurechtgemachte Mädchen mit scharlachroten Seidenbändern um den Hals und einem tätowierten B auf dem Arm. Wahrscheinlich sind die Soldaten in den Barracken direkt über dem Club untergebracht.
Ich überprüfe noch einmal mein eigenes Kostüm. Gestohlen aus der Garderobe des Sun Palace. Oberflächlich betrachtet sehe ich aus wie jedes andere Eskortmädchen. Goldene Ketten mit vielen kleinen Anhängern um Taille und Fußknöchel. In mein (dank Sprühfarbe) dunkelrotes Haar sind Federn und Goldbänder eingeflochten. Meine Augen sind dick mit schimmerndem Lidschatten umrahmt und ein verwegenes Phönixtattoo ziert meinen Wangenknochen und das Augenlid. Mein rotes Seidenkostüm lässt Arme und Taille frei und meine Stiefel sind mit dunklen Bändern geschnürt.
Doch in einem Detail unterscheidet sich mein Kostüm von denen der anderen Mädchen.
Es ist eine Kette mit dreizehn kleinen, funkelnden Spiegeln. Sie ist teilweise unter den anderen Ketten versteckt, die meinen Fußknöchel umschlingen, und aus der Ferne könnte man sie für ein ganz gewöhnliches Schmuckstück halten. Vollkommen unauffällig. Doch hin und wieder, wenn das Licht der Straßenlampen sie erfasst, verwandelt sie sich in eine Reihe strahlender Sterne. Dreizehn, die inoffizielle Zahl der Patrioten. Dies ist unser Signal für sie. Ich bin mir sicher, dass sie die Hauptstraße von Vegas ununterbrochen beobachten, darum werden ihnen zumindest die blitzenden Lichter an mir auffallen. Und wenn es so weit ist, werden sie uns ziemlich bald auch als das Pärchen wiedererkennen, dem sie in Los Angeles zur Flucht verholfen haben.
Die JumboTrons am Straßenrand geben ein kurzes Rauschen von sich. Jeden Moment müsste das Nationalgelöbnis beginnen. Anders als in Los Angeles spielen sie das Nationalgelöbnis in Vegas fünf Mal am Tag – alle JumboTrons unterbrechen ihre Werbespots oder Nachrichten oder was auch immer sie gerade zeigen und ersetzen sie durch riesige Bilder unseres Elektors, bevor kurz darauf über das Lautsprechersystem der Stadt die folgenden Zeilen ertönen: Ich gelobe meine Treue zur Flagge der großen Republik von Amerika, zu unserem ehrwürdigen Elektor, unserem ruhmreichen Vaterland, dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Kolonien und meinen Glauben an einen baldigen Sieg!
Vor gar nicht allzu langer Zeit habe ich dieses Gelöbnis jeden Morgen und Nachmittag mit derselben Begeisterung wie alle anderen mitgesprochen, fest entschlossen, die Kolonien im Osten daran zu hindern, unsere kostbare Westküste zu erobern. Das war, bevor ich wusste, welche Rolle die Republik beim Tod meiner Familie gespielt hat. Ich bin nicht sicher, was ich heute will. Den Sieg der Kolonien?
Auf den JumboTrons startet eine Nachrichtensendung. Ein Wochenrückblick. Day und ich lesen die Schlagzeilen, die über die Bildschirme zucken:
TRIUMPHALER SIEG IN SCHLACHT UM AMARILLO: REPUBLIK NIMMT MEILENWEISE KOLONIENGEBIET IN OST-TEXAS EIN
FLUT-ENTWARNUNG FÜR SACRAMENTO, KALIFORNIEN
STÄRKUNG DER TRUPPENMORAL: ELEKTOR BESUCHT NÖRDLICHE FRONT
Die meisten davon sind eher uninteressant, nur die üblichen Front-Nachrichten, Wetterberichte, Gesetzesänderungen und Quarantäneinformationen für Vegas.
Plötzlich tippt Day mir auf die Schulter und deutet auf einen der Bildschirme.
LOS ANGELES: QUARANTÄNE AUF SEKTOREN EMERALD UND OPAL AUSGEWEITET
»Edelsteinsektoren?«, flüstert Day. Meine Augen sind noch immer auf den Bildschirm gerichtet, obwohl die Schlagzeile längst verschwunden ist. »Da wohnen aber doch die Reichen, oder?«
Ich weiß nicht, was ich antworten soll, weil ich noch damit beschäftigt bin, die Neuigkeit zu verdauen. Emerald und Opal … Ob das ein Irrtum ist? Oder haben sich die Seuchen in L. A. dermaßen ausgebreitet, dass die Nachricht selbst auf den JumboTrons in Vegas erscheint? Noch nie habe ich erlebt,
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