Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
dass die Quarantänezone bis auf die Wohngebiete der Oberschicht ausgeweitet wurde. Der Emerald-Sektor grenzt an Ruby – bedeutet das, dass bald auch das Viertel, in dem ich gelebt habe, unter Quarantäne steht? Was ist denn mit den Impfungen? Sollten die nicht genau so etwas vermeiden? Ich denke an Metias’ Tagebucheinträge. Früher oder später , hatte er geschrieben, wird so ein Virus außer Kontrolle geraten und dann wird keine Impfung und kein Gegenmittel es aufhalten können. Ich denke an die Dinge, die mein Bruder herausgefunden hat, an die unterirdischen Mastbetriebe, die aggressiven Viren … die systematisch verbreiteten Seuchen. Ein Schauder überläuft mich. Los Angeles wird die Seuche schon bezwingen, sage ich mir. Sie wird aussterben, so wie bisher jedes Mal.
Weitere Schlagzeilen huschen über den Bildschirm. Die altbekannte über Days Hinrichtung. Sie zeigen die Szene aus der Batalla-Zentrale, wie Days Bruder John vor das Erschießungskommando geführt wird und unter den Kugeln zusammenbricht, die für Day bestimmt waren, bevor er mit dem Gesicht voran auf dem Boden landet. Day senkt den Blick auf den Bürgersteig vor ihm.
Eine andere Schlagzeile ist neuer. Sie lautet:
VERMISST
KENNZIFFER: 2001963034
JUNE IPARIS
SOLDATIN, STADTSTREIFE LOS
ANGELES
ALTER/GESCHLECHT: 15, WEIBLICH,
GRÖSSE: 1,60 M
HAARFARBE: BRAUN,
AUGENFARBE: BRAUN
ZULETZT GESEHEN: NÄHE BATALLA-ZENTRALE,
LOS ANGELES, KALIFORNIEN
350 000 REPUBLIKNOTEN BELOHNUNG
HINWEISE UNVERZÜGLICH AN DIE
ÖRTLICHEN BEHÖRDEN
Das will die Republik den Leuten also weismachen. Dass ich vermisst werde, dass sie hoffen, mich heil und unversehrt wiederzufinden. Was sie ihnen verschweigen, ist die Tatsache, dass sie mich am liebsten tot sehen würden. Ich habe dem gefährlichsten Verbrecher des Landes geholfen, seiner Hinrichtung zu entgehen, die rebellischen Patrioten zu einem Aufstand an einem Militärstützpunkt angestiftet und der Republik den Rücken gekehrt.
Aber diese Informationen machen sie natürlich nicht öffentlich, damit sie mich in aller Ruhe aufspüren können. Die Vermisstenanzeige zeigt das Foto von meinem Militärausweis – eine Porträtaufnahme von mir, auf der ich nicht lächele, das Gesicht bis auf einen Hauch Lipgloss ungeschminkt, meine dunklen Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zurückgebunden. Auf dem Schwarz meines Mantels glänzt ein goldenes Republikemblem. Ich bin froh, dass in diesem Moment mein halbes Gesicht unter dem Phönixtattoo verborgen ist.
Wir sind gerade in der Mitte der Hauptstraße angelangt, als abermals ein Knistern aus den Lautsprechern dringt und das Gelöbnis von Neuem beginnt. Day und ich bleiben stehen. Day strauchelt und wäre beinahe gestürzt, aber ich kann ihn gerade noch festhalten. Die Leute auf der Straße blicken zu den JumboTrons hoch (bis auf ein paar Soldaten, die am Straßenrand Aufstellung genommen haben, um zu kontrollieren, ob auch jeder das Gelöbnis mitspricht). Die Bildschirme flackern und werden schwarz. Dann leuchtet das gestochen scharfe Porträt des Elektors auf.
Ich gelobe meine Treue …
Es ist fast ein beruhigendes Gefühl, die Worte zusammen mit allen anderen auf der Straße mitzusprechen, zumindest so lange, bis mir wieder einfällt, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Ich denke an den Abend nach Days Festnahme, als der Elektor und sein Sohn persönlich gekommen sind, um mir ihre Glückwünsche dafür auszusprechen, dass ich einen gefährlichen Straftäter hinter Gitter gebracht hatte. Die Bilder auf den JumboTrons zeigen dieselben grünen Augen, das markante Kinn und die dunklen Locken … Was jedoch nicht darauf zu sehen ist, sind die Kälte in seinem Blick und das kränkliche Grau seiner Haut. Auf den Porträts wirkt er beinahe väterlich, mit gesunden rosigen Wangen. Ganz anders, als ich ihn in Erinnerung habe.
… zur Flagge der großen Republik von Amerika –
Plötzlich stoppt die Übertragung. Stille breitet sich auf der Straße aus und kurz darauf erhebt sich ein Chor von verwirrtem Geflüster. Ich runzele die Stirn. Sehr ungewöhnlich. Dass das Nationalgelöbnis unterbrochen wird, habe ich noch nie erlebt, nicht ein einziges Mal. Und das System der JumboTrons ist so konzipiert, dass der Ausfall eines einzelnen die anderen nicht beeinträchtigen dürfte.
Day blickt zu den eingefrorenen Bildschirmen hinauf, während ich zu den Soldaten am Straßenrand hinübersehe. »Technische Panne?«, fragt er. Sein keuchender Atem macht mir
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