Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
nicht mehr weit. Der Zug wird hier wahrscheinlich eine Weile haltmachen, aber danach sollten es nicht viel mehr als fünfunddreißig Minuten bis nach Vegas sein.«
Day nickt. Er beugt sich vor und knotet unseren Vorratsbeutel auf, um darin nach etwas zu essen zu suchen. »Gut. Je früher wir ankommen, desto eher können wir uns auf die Suche nach den Patrioten machen.«
Er wirkt abwesend. Hin und wieder erzählt Day mir, wovon seine Albträume handeln – davon, dass er den Großen Test nicht besteht oder irgendwo auf der Straße Tess verliert oder vor der Seuchenpolizei fliehen muss. Davon, der meistgesuchte Verbrecher der Republik zu sein. Manchmal aber, wenn er so ist wie jetzt und seine Träume für sich behält, weiß ich, dass sie von seiner Familie handeln – vom Tod seiner Mutter oder dem Johns. Vielleicht ist es besser, dass er mir nicht von ihnen erzählt. Ich habe selbst genug, was mich bis in meine Träume verfolgt, und ich bin nicht sicher, ob ich den Mut habe, mich auch noch seinen zu stellen.
»Du hast dir also wirklich in den Kopf gesetzt, die Patrioten zu finden?«, frage ich, während Day ein trockenes Stück Schmalzgebäck aus dem Vorratssack zieht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Zweifel an seinem Plan äußere, nach Vegas zu fahren, darum gehe ich äußerst behutsam dabei vor. Das Letzte, was ich will, ist, dass Day denkt, Tess wäre mir egal oder ich hätte Angst, mit der gefürchteten Rebellengruppe in Kontakt zu treten. »Ich meine, Tess ist immerhin freiwillig mit ihnen gegangen. Bringen wir sie nicht in Gefahr, wenn wir versuchen, sie zurückzuholen?«
Day antwortet nicht gleich. Er reißt das Gebäck in zwei Hälften und reicht mir eine davon. »Nimm auch was, ja? Du hast schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen.«
Ich hebe höflich die Hand. »Nein danke«, erwidere ich. »Ich mag kein Schmalzgebäck.«
Im nächsten Moment wünschte ich, ich könnte die Worte zurück in meinen Mund stopfen. Day senkt den Blick und steckt die zweite Hälfte wieder in den Beutel, bevor er schweigend zu essen beginnt. Wie konnte ich bloß so was abgrundtief Dummes sagen? Ich mag kein Schmalzgebäck. Ich kann praktisch hören, was ihm jetzt durch den Kopf geht: Armes kleines reiches Mädchen mit seinem ach so verwöhnten Gaumen. Muss ja toll sein, wenn man es sich leisten kann, Essen nicht zu mögen. Im Stillen herrsche ich mich an, das nächste Mal gefälligst besser nachzudenken, bevor ich den Mund aufmache.
Nach ein paar Bissen antwortet Day schließlich: »Ich kann Tess nicht einfach im Stich lassen, ohne zu wissen, dass es ihr gut geht.«
Natürlich kann er das nicht. Day würde nie jemanden im Stich lassen, der ihm etwas bedeutet, und schon gar nicht das Waisenmädchen, mit dem er auf der Straße aufgewachsen ist. Ich sehe ja ein, dass ein Treffen mit den Patrioten uns ein gutes Stück weiterbringen könnte – schließlich haben diese Rebellen Day und auch mir dabei geholfen, aus Los Angeles zu fliehen. Sie sind eine große, gut organisierte Gruppe. Vielleicht haben sie Informationen darüber, was die Republik mit Eden, Days kleinem Bruder, vorhat. Vielleicht können sie sogar irgendetwas tun, um Days schwärende Beinwunde zu heilen – seit jenem schicksalhaften Morgen, als Commander Jameson ihm eine Kugel ins Bein geschossen und ihn verhaften lassen hat, geht es mit der Wunde ständig auf und ab. Mittlerweile ist sein linkes Bein nur noch eine Masse aus offenem, blutendem Fleisch. Er bräuchte dringend medizinische Versorgung.
Doch die Sache hat einen Haken.
»Die Patrioten werden uns nicht helfen, wenn wir sie dafür nicht irgendwie bezahlen. Und was können wir denen schon geben?« Um meine Worte zu unterstreichen, greife ich in meine Hosentaschen und ziehe unsere jämmerlichen Ersparnisse hervor. Viertausend Noten. Alles, was ich bei mir hatte, als wir geflüchtet sind. Ich kann nicht glauben, wie sehr mir der Luxus meines alten Lebens fehlt. Auf meinen Familiennamen laufen Konten mit Millionen von Noten, Geld, auf das ich nie wieder Zugriff haben werde.
Day verspeist den Rest seines Gebäcks und denkt mit zusammengepressten Lippen über meine Worte nach. »Ja, ich weiß«, erwidert er schließlich und fährt sich mit der Hand durch seine verknoteten blonden Haare. »Aber hast du einen besseren Vorschlag? Wen sollten wir denn sonst fragen?«
Hilflos schüttele ich den Kopf. Day hat recht – so wenig verlockend mir die Vorstellung, wieder mit den Patrioten aufeinanderzutreffen,
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