Legend 02 - Schwelender Sturm (German Edition)
Sorgen. Ein kleines bisschen musst du noch durchhalten. Hier können wir nicht bleiben.
Ich schüttele den Kopf. »Nein. Sieh mal, die Soldaten.« Ich nicke unauffällig in ihre Richtung. »Sie haben ihre Position verändert. Jetzt tragen sie ihre Gewehre nicht mehr über der Schulter – sie halten sie in der Hand. Sie bereiten sich auf irgendeine Reaktion der Leute vor.«
Day schüttelt langsam den Kopf. Er ist beunruhigend blass. »Irgendetwas ist passiert.«
Das Porträt des Elektors verschwindet von den JumboTrons und im nächsten Moment folgt eine neue Serie von Bildern. Sie zeigen einen Mann, der dem Elektor zum Verwechseln ähnlich sieht, nur dass er viel jünger ist, vielleicht Anfang zwanzig, doch er hat die gleichen grünen Augen und dunklen Locken. Plötzlich erinnere ich mich an die Aufregung, die mich durchzuckt hat, als ich ihn bei der Ehrenfeier anlässlich von Days Gefangennahme getroffen habe. Das hier ist Anden Stavropoulos, der Sohn des Elektors.
Day hat recht. Irgendetwas muss passiert sein.
Der Elektor der Republik ist tot.
Eine fröhliche Stimme ertönt aus den Lautsprechern: »Bevor wir das Nationalgelöbnis fortsetzen, bitten wir alle Soldaten und Zivilisten, die Elektor-Porträts in ihren Behausungen auszutauschen. Die neuen Porträts liegen in den örtlichen Polizeidienststellen zur Abholung bereit. Inspektionen zur Überprüfung Ihrer Kooperationswilligkeit beginnen in zwei Wochen.«
Als Nächstes verkündet die Stimme das angebliche Resultat einer landesweiten Wahl. Auf die Todesumstände des Elektors aber wird mit keinem Wort eingegangen. Genauso wenig wie auf die Amtsergreifung seines Sohns.
Die Republik hat den alten Elektor durch einen neuen ersetzt, ohne auch nur einen einzigen Moment innezuhalten, so als wäre Anden derselbe Mensch wie sein Vater. Mir schwirrt der Kopf, ich versuche mich daran zu erinnern, was ich in der Schule über die Elektor-Wahl gelernt habe. Ein Elektor bestimmt immer selbst seinen Nachfolger, der dann durch eine landesweite Wahl bestätigt wird. Es ist kaum überraschend, dass er sich für Anden entschieden hat – aber unser Elektor ist jahrzehntelang im Amt gewesen, schon lange bevor ich geboren wurde. Und jetzt ist er plötzlich nicht mehr da. Innerhalb von Sekunden hat sich unsere ganze Welt verändert.
Genau wie Day und ich begreifen langsam auch alle anderen auf der Straße, was die angemessene Reaktion auf diese Nachricht ist: Wie auf ein Zeichen hin verneigen wir uns vor dem Porträt auf den JumboTrons und sprechen den Rest des Gelöbnisses, das nun wieder auf den Bildschirmen erschienen ist.
… zu unserem ehrwürdigen Elektor, unserem ruhmreichen Vaterland, dem gemeinschaftlichen Kampf gegen die Kolonien und meinen Glauben an einen baldigen Sieg!
Immer wieder sprechen wir die Worte, denn niemand wagt es aufzuhören, solange sie auf den Bildschirmen aufleuchten.
Ich sehe zu den Soldaten am Straßenrand hinüber. Ihre Hände liegen fest auf ihren Gewehren. Schließlich, nach einer Zeit, die mir wie Stunden vorkommt, verschwinden die Worte und die JumboTrons senden wieder die üblichen Nachrichten. Alle setzen sich in Bewegung, so als wäre nichts geschehen.
Dann stolpert Day. Diesmal fühle ich, wie er zittert, und mein Herz krampft sich zusammen. »Bleib bei mir«, flüstere ich. Überrascht stelle ich fest, dass ich beinahe Bleib bei mir, Metias gesagt hätte. Ich versuche, ihn aufrecht zu halten, doch er gleitet unaufhaltsam Richtung Boden.
»Tut mir leid«, murmelt er. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß, seine Augen sind vor Schmerz zugekniffen. Er hebt zwei Finger an die Augenbraue. Stopp. Er kann nicht mehr.
Gehetzt blicke ich mich um. Zu viele Soldaten – wir haben noch einen langen Weg vor uns. »Nein, du musst«, widerspreche ich fest. »Bleib bei mir. Du schaffst das.«
Doch es hat keinen Zweck. Bevor ich ihn halten kann, stürzt er auf seine Hände und bricht auf der Straße zusammen.
DAY
Unser ehrwürdiger Elektor ist tot.
Ganz schön ernüchternd, das Ganze, was? Beim Tod des Elektors würde man einen gepflegten Trauermarsch erwarten, Panik auf den Straßen, Fahnen auf Halbmast, Soldaten, die ein Ehrensalut in den Himmel feuern. Ein riesiges Bankett, tagelange Staatstrauer mit weißen Flaggen an jedem Gebäude. Eben irgendeinen Hokuspokus dieser Art. Aber ich bin noch nicht lange genug auf der Welt, um den Tod eines Elektors miterlebt zu haben. Abgesehen von der Tatsache, dass der Wunschnachfolger des verstorbenen
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