Legend - Fallender Himmel
mir ins Auge. Aus einer Spalte im Boden wächst ein Büschel Seeschlüsselblumen. Moms Lieblingsblumen. »Du könntest dir hier die Seuche holen.«
Das Mädchen lächelt mich an, als wüsste es etwas, das ich nicht weiß. Ich wünschte, mir würde einfallen, an wen sie mich erinnert. »Keine Sorge«, sagt sie. »Wenn ich nicht gerade wütend bin, bin ich ziemlich vorsichtig.«
Als schließlich der Abend hereinbricht und das Mädchen in einen unruhigen Schlaf gesunken ist, bitte ich Tess, bei ihr zu bleiben, damit ich mich davonstehlen und nach meiner Familie sehen kann. Tess hat nichts dagegen. In die Seuchengebiete zu gehen, macht ihr immer ziemliche Angst, und wenn wir zurückkommen, kratzt sie sich jedes Mal wie verrückt die Arme - als könnte sie spüren, wie sich die Krankheit auf ihrer Haut ausbreitet.
Ich lasse die Seeschlüsselblumen in meinem Ärmel verschwinden und stecke zur Sicherheit ein paar Noten in die Tasche. Tess hilft mir, meine Hände mit Stoff zu umwickeln, damit ich nirgends Fingerabdrücke hinterlasse.
Die Nacht ist überraschend kühl. Auf den Straßen patrouillieren heute keine Seuchentrupps und die einzigen Geräusche kommen von gelegentlich vorbeifahrenden Autos und den JumboTrons in der Ferne. Das seltsame X an unserer Haustür ist noch immer da und so auffällig wie eh und je. Ich bin fast sicher, dass die Soldaten in der Zwischenzeit noch einmal hier gewesen sind, denn der Buchstabe leuchtet grell und die Farbe ist frisch. Sie müssen einen zweiten Kontrollgang durch das Gebiet gemacht haben. Was auch immer sie dazu veranlasst hat, unsere Tür zu markieren, scheint sich ausgebreitet zu haben. In einer dunklen Ecke in der Nähe unseres Hauses warte ich ab, nah genug, um durch die Lücken in unserem wackeligen Gartenzaun spähen zu können.
Als ich sicher bin, dass keine Streife in dieser Straße unterwegs ist, renne ich auf das Haus zu und kauere mich vor einem losen Brett, durch das man unter die Veranda gelangt, auf die Erde. Ich schiebe es zur Seite und krieche in den dunklen, muffig riechenden Hohlraum. Dann ziehe ich das Brett zurück an seinen Platz.
Aus dem Raum über mir sickern dünne Lichtstrahlen durch die Bodendielen zu mir herunter. Im hinteren Teil des Hauses, wo sich unser einziges Schlafzimmer befindet, höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich krieche darauf zu, hocke mich unter den Lüftungsschacht und spähe hinein.
John sitzt mit verschränkten Armen auf der Bettkante. An seiner Haltung kann ich erkennen, dass er erschöpft ist. Seine Schuhe sind schlammverkrustet - deswegen hat Mom mit ihm geschimpft, das weiß ich. Johns Blick ist auf die andere Seite des Schlafzimmers gerichtet, wo Mom stehen muss.
Wieder höre ich ihre Stimme, diesmal laut genug, um zu verstehen, was sie sagt. »Keiner von uns beiden ist krank geworden.« John senkt den Blick und wendet sich wieder dem Bett zu. »Es scheint nicht ansteckend zu sein. Und mit Edens Haut ist immer noch alles in Ordnung. Keine Blutungen.«
» Noch nicht«, entgegnet John. »Wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen, Mom. Wenn Eden -«
Moms Stimme ist streng. »Ich dulde nicht, dass du das in meinem Haus aussprichst, John.«
»Er braucht mehr als bloß Seuchenhemmer. Wer auch immer uns die gegeben hat, hat es gut gemeint, aber es reicht einfach nicht.« John schüttelt den Kopf und steht auf. Selbst in diesem Moment - gerade in diesem Moment - muss er meiner Mutter verheimlichen, dass ich am Leben bin. Als er vom Bett aufsteht, sehe ich, dass Eden darin liegt, die Decke trotz der herrschenden Hitze bis zum Kinn hochgezogen. Seine Haut glänzt vor Schweiß. Sie hat eine seltsame Farbe angenommen, ein blasses, kränkliches Grün. Ich kann mich an keine andere Seuche mit solchen Symptomen erinnern. In meiner Kehle bildet sich ein Kloß.
Das Schlafzimmer sieht aus wie immer, die wenigen Möbel darin sind abgenutzt, aber noch immer gemütlich. Da ist die zerschlissene Matratze, auf der Eden liegt, und daneben die verkratzte Kommode, die ich früher gern mit allem möglichen Gekritzel verziert habe. Außerdem hängt das obligatorische Elektor-Porträt an der Wand zwischen unseren eigenen Fotos, ganz als gehörte er zu unserer Familie. Mehr gibt es in unserem Schlafzimmer nicht. Als Eden noch ein Kleinkind war, haben John und ich ihn immer bei den Händen genommen und ihm geholfen, von einem Ende des Zimmers zum anderen zu laufen. Jedes Mal, wenn er es allein schaffte, klatschte John sich mit ihm ab.
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