Legend - Fallender Himmel
wirst.
Noch fünf Häuser.
Tess sieht die Sorge in meinen Augen und legt mir die Hand auf die Stirn. »Bekommst du wieder deine Kopfschmerzen?«
»Nein. Alles okay.« Ich spähe in das geöffnete Fenster am Haus meiner Familie und erhasche zum ersten Mal einen Blick auf ein vertrautes Gesicht. Eden geht daran vorbei, lugt nach draußen zu den näher kommenden Soldaten und richtet irgendeinen selbst gebastelten Apparat aus Metall auf sie. Dann zieht er den Kopf wieder ein und verschwindet im Inneren des Hauses. Seine Locken schimmern weißblond im flackernden Licht der Lampe. So wie ich ihn kenne, hat er das Gerät wahrscheinlich gebaut, um zu messen, wie weit jemand von ihm entfernt ist oder so ähnlich.
»Er ist dünner geworden«, murmele ich.
»Er ist lebendig und wohlauf«, entgegnet Tess. »Ich würde sagen, das ist eine gute Nachricht.«
Ein paar Minuten später gehen John und meine Mutter an dem Fenster vorbei, vertieft in ein Gespräch. John und ich sehen uns ziemlich ähnlich, nur dass er durch seine langen Schichten im Kraftwerk etwas muskulöser geworden ist. Sein Haar reicht ihm, wie den meisten in unserem Sektor, bis über die Schultern und ist zu einem einfachen Pferdeschwanz gebunden. Sein Hemd hat rote Lehmflecken. Ich kann erkennen, dass Mom ihn wegen irgendwas ausschimpft, wahrscheinlich, weil er zugelassen hat, dass Eden aus dem Fenster guckt. Sie schlägt Johns Hand weg, als einer ihrer chronischen Hustenanfälle sie zu schütteln beginnt.
Ich atme aus. Gut. Wenigstens sind sie alle drei gesund genug, um auf den Beinen zu sein. Das heißt, selbst wenn sich einer von ihnen infiziert haben sollte, bestünde noch die Chance, dass sie wieder genesen.
Ich kann nicht aufhören, daran zu denken, was passieren würde, wenn die Soldaten unsere Haustür markieren. Meine Familie würde eine Weile wie versteinert in unserem Wohnzimmer stehen, nachdem die Soldaten gegangen wären. Irgendwann würde Mom ihr gewohnt tapferes Gesicht aufsetzen, um dann die ganze Nacht wach zu liegen und sich lautlos die Tränen wegzuwischen. Ab dem nächsten Morgen würden sie mit kleinen Essens- und Wasserrationen versorgt werden und nichts tun als abzuwarten, bis sie wieder gesund wurden. Oder starben.
Meine Gedanken wandern zu dem Geheimvorrat an gestohlenem Geld, den Tess und ich angelegt haben. Zweitausendfünfhundert Noten. Genug, um uns ein paar Monate über Wasser zu halten ... aber nicht genug, um meiner Familie ein paar Fläschchen Seuchenmedizin zu kaufen.
Die Minuten ziehen sich hin. Ich stecke meine Schleuder weg und spiele ein paar Runden Schere-Stein-Papier mit Tess. (Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber sie ist so gut wie unschlagbar in diesem Spiel.) Hin und wieder werfe ich einen Blick zum Fenster unseres Hauses hinüber, aber ich kann niemanden sehen. Sie müssen sich nahe der Tür versammelt haben, bereit, sie zu öffnen, sobald sie eine Faust an das Holz hämmern hören.
Und dann ist der Zeitpunkt gekommen.
Ich lehne mich so weit über das Fensterbrett, dass Tess mich beim Arm packt, damit ich nicht kopfüber auf die Straße plumpse.
Die Soldaten klopfen an die Tür. Meine Mutter macht sofort auf, lässt sie herein und schließt die Tür wieder. Ich lausche angestrengt auf Stimmen oder Schritte, irgendwas, das aus meinem Zuhause zu mir heraufdringt. Je schneller das alles vorüber ist, desto früher kann ich John meine Geschenke zustecken.
Die Stille nimmt kein Ende.
Tess flüstert: »Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, nicht?«
»Sehr witzig.«
Im Kopf zähle ich die Sekunden. Eine Minute vergeht. Dann zwei, dann vier, und schließlich sind es zehn.
Fünfzehn Minuten. Zwanzig.
Ich sehe Tess an. Sie zuckt mit den Schultern. »Vielleicht ist ja ihr Analysegerät kaputt«, meint sie.
Dreißig Minuten vergehen.
Ich wage nicht, mich von meinem Beobachtungsposten wegzubewegen. Ich traue mich kaum zu blinzeln, aus Angst, dass ausgerechnet dann irgendwas Wichtiges passiert. Meine Finger trommeln einen Rhythmus auf den Griff meines Messers.
Vierzig Minuten. Fünfzig Minuten. Eine Stunde.
»Da stimmt was nicht«, flüstere ich.
Tess schürzt die Lippen. »Das kannst du nicht wissen.«
»Doch, ich weiß es. Was soll denn da so lange dauern?«
Tess öffnet den Mund, um zu antworten, doch bevor sie etwas sagen kann, kommen die Soldaten aus unserem Haus, einer nach dem anderen, die Gesichter ausdruckslos. Der letzte Soldat schließt die Tür hinter sich und greift nach etwas, das an
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