Legenden der Traumzeit Roman
schätzen, sie bei Laune zu halten, merkte aber bald, dass er in dieser vertraulichen Umgebung verlegen war, und sie vermutete, er war ebenso erleichtert wie sie, wenn es an der Zeit war, sich zu verabschieden. Sie war unfreundlich, das wusste sie. Aber sie war noch nicht kräftig genug, um seine geballte Energie zu verkraften, auch wenn er es nur gut meinte.
Schließlich kam der Sonntag, und sobald die Magd ihr beim Waschen und Anziehen eines frischen Nachthemds geholfen und ihr einen Daunenfederschal umgehängt hatte, setzte sie sich ans Fenster und bürstete ihr Haar. Von hier aus sah sie die lange, kiesbestreute Auffahrt und wartete begierig darauf, Hilda zu sehen.
Die Uhr in der Diele schlug zwei, als der Einspänner an den Toren auftauchte. Er verschwand um die Ecke zur Vorderseite des Hauses, und Jessie konnte die Wartezeit kaum ertragen, als Hilda im Flur ausführlich mit Frieda sprach, bevor sie an die Tür klopfte.
»Hallo, Schätzchen. Gute Güte, du bist ja bildschön anzusehen!«
Das strahlende Lächeln und die großen Knopfaugen waren so wunderbar vertraut, dass Jessie die Tränen kamen. Hilda erdrückte sie in einer matronenhaften Umarmung.
»Du hast mir so gefehlt«, schniefte Jessie, als sie sich voneinander lösten. »Ich muss wohl nicht fragen, wie es dir geht, denn du siehst so gut aus wie immer. Was macht Mr. Lawrence?«
Hilda ließ sich in einen Sessel fallen und verzog das Gesicht. »Dasselbe wie immer«, sagte sie verächtlich. Dann funkelten ihre Augen, und ein Lächeln erhellte ihre Gesichtszüge. »Aber ich glaube, der neue Pfarrer hat ihn ausgestochen. So ein netter Mann und so leicht zufriedenzustellen! Es ist eine Freude, sich um ihn zu kümmern.«
»Ist viel Schaden entstanden?«
»Und ob! Der Schlamm ging bis hoch an die Wände, und jedes Möbelstück war ruiniert. Die Außentoilette war verschwunden, ebenso meine Küche, und Zephaniah musste eine lange Bestellung aufgeben, damit alles ersetzt wurde, bis hin zu den Büchern und Schiefertafeln. Er hat auch Männer aus Newcastle mitgebracht, die sich um die Reparaturen gekümmert und neue Möbel angefertigt haben.«
»Wieso aus Newcastle? Ich dachte, es sei einfacher, Leute aus der direkten Umgebung einzustellen.«
Hilda schüttelte den Kopf. »Der tiefer liegende Teil des Tales ist fast vollständig zerstört. Die ortsansässigen Männer sind viel zu beschäftigt, ihre eigenen Häuser zu retten, um andere Arbeit zu suchen.« Plötzlich stand sie auf und eilte an die Tür. »Ich habe eine Überraschung für dich. Warte einen Augenblick.«
Jessies Herz pochte so schnell, dass sie kaum atmen konnte. Wollte Hilda sie mit Abel überraschen? Hatte sie ihn mitgebracht?
»Sieh mal, was ich gefunden habe«, sagte sie, als sie wieder in der Tür erschien.
Jessie wurde das Herz schwer, als sie sah, dass Hilda alleinwar, doch ihre Enttäuschung war rasch verflogen. »Meine Reisetasche! Meine kostbare Tasche. Aber wie … Wo …«
Hilda reichte sie ihr mit breitem Grinsen. »Ich hatte sie oben auf die Kommode im Wohnzimmer gestellt. Sie war so ungefähr der einzige Gegenstand im Haus, der die Flut überstanden hat.«
Jessie tauchte in die Tasche ab und zog die Schreibmappe und ihr Umhängetuch heraus. »Oh, Hilda«, hauchte sie und drückte die Sachen ans Herz, »ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen.«
»Ist schon gut, Schätzchen.«
Jessie verstaute die Schreibmappe vorsichtig in der Tasche und ersetzte Friedas Schal durch das Umhängetuch ihrer Großmutter. »Jetzt weiß ich, dass ich wieder gesund werde.« Sie schaute Hilda an und zog die Stirn kraus, da die ältere Frau ihrem Blick auswich. »Was ist los, Hilda? Was verschweigst du mir?«
Hilda schüttelte den Kopf und schaute starr aus dem Fenster. »Nichts, Schätzchen.«
Jessie berührte ihren Arm. Sie hatte jetzt Angst davor, was sie erfahren würde, musste aber unbedingt wissen, was Hilda ihr vorenthielt. »Hat es mit Abel zu tun?«, flüsterte sie.
Hilda weigerte sich noch immer, sie anzusehen. »Ich habe einen Apfelkuchen mitgebracht«, sagte sie. »Ich dachte, der heitert dich auf.«
»Hilda, bitte, bleib beim Thema! Was ist Abel zugestoßen?«
Schließlich schaute sie Jessie an. »Nichts, worum du dich sorgen müsstest«, sagte sie und verdrehte die Finger im Schoß.
»Aber irgendetwas ist passiert. Sag es mir, oder ich mache mich auf, um es selbst herauszufinden.«
Hilda seufzte und schaute auf ihre Hände. »Das ist nicht nötig, Schätzchen – er
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