Lehmann, Christine
mir R i chard, »ist ein reiner Verwaltungsakt. Das Jugendamt gehört zur Stadtverwaltung. Oberster Dienstherr ist der Oberbürgermeister.«
»Aber da muss doch ein Richter …«
»Sicher. Doch um eine Inobhutnahme zu erwirken, muss das Jugendamt vor Gericht keinen Nachweis des elterlichen Versagens führen.«
»Was? Die Behauptung, dass es so sei, genügt?«
Richard nickte. »Das Gericht stimmt in der Regel den Maßnahmen des Jugendamts zu. Außerdem kann das J u gendamt einer richterlichen Anordnung widersprechen. Es muss ein Kind nicht herausgeben, auch wenn ein G e richt so entscheidet.«
Ich versuchte, es zu begreifen. »Das heißt, es tut ei n fach nicht, was das Gericht verlangt?«
»Das kommt durchaus vor. Beim Petitionsausschuss des Europaparlaments liegen 400 Petitionen, die solche Fälle betreffen.«
»Aber das geht doch nicht!«, fuhr ich auf. »Da muss man doch was machen können!«
»Nur mit einem guten Anwalt und viel Geld«, sagte Richard. »Dann kannst du bis vor den Europäischen G e richtshof für Menschenrechte ziehen. Der hat schon so manches Jugendamt einschließlich der Bundesrepublik Deutschland verurteilt. Nur, ob die örtlichen Behörden, also das Jugendamt, den Beschluss des EuGH auch u m setzen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Das Jugen d amt legt beispielsweise neue Gutachten vor, erklärt neue Gefahren für das Kind …«
»Und wer ruft die zur Ordnung?«
»Niemand. Es gibt keine Aufsichtsbehörde. Jugen d ämter können selbst bei vorsätzlich verantwortungslosem Handeln nicht haftbar gemacht werden. Nicht wahr, Frau Kollegin?« Richard lächelte der dickhüftigen Richterin zu.
»Von Vorsatz würde ich hier auch nie sprechen, Herr Kollege«, sagte sie. »Die Jugendämter entscheiden nach bestem Wissen und Gewissen. Fehler kommen natürlich vor, wir sind alle Menschen.«
»Ja, das alte Problem mit dem Fehler erster und zwe i ter Art beim Signifikanztest«, sagte Richard genüsslich. »Eine Hypothese ist richtig und wird abgelehnt, oder sie ist falsch und wird angenommen. Wenn nun die Hyp o these lautet: ›Das Kind ist gefährdet ‹ , kann das Jugen d amt zwei Fehler begehen, den Fehler 1. Art und den Fe h ler 2. Art. Fehler 1. Art: Das Jugendamt sagt: ›Nein, das Kind ist nicht gefährdet ‹, und lässt es in der Familie, doch dort stirbt es an Misshandlungen. Fehler 2. Art: Das Jugen d amt sagt: ›Ja, das Kind ist gefährdet ‹, und holt es aus der Familie. Diese Annahme ist jedoch falsch, was sich hi n terher allerdings kaum nachweisen lässt, denn das Kind überlebt ja außerhalb der Familie. Der Fehler 1. Art ist für das Jugendamt also eindeutig folgenschw e rer, weil die Öffentlichkeit aufschreit, als der Fehler 2. Art. Folglich wird es danach trachten, den Fehler 1. Art zu ve r meiden, auch wenn es bedeutet, dass der Fehler 2. Art um ein Vielfaches häufiger begangen wird.«
»Ich denke nicht«, widersprach Sonja Depper, »dass das die Grundlage der Jugendamtsentscheidungen ist.«
Richard lächelte ihr arrogant in die Augen. »Die B e amten können gar nicht anders vorgehen, Frau Depper, und es wäre gut, wenn es ihnen auch bewusst wäre. Das ist Beurteilende Statistik, also Wahrscheinlichkeitsrec h nung. Und gerade mit Wahrscheinlichkeiten kann unser Gehirn nur schlecht umgehen. Sonst würden wir nicht Lotto spielen.«
»Aber …« Ich verstand das Wesentliche immer noch nicht. »Aber irgendwo muss ich doch Widerspruch ei n legen können gegen eine Entscheidung des Jugendamts! Und zwar einen, der unverzüglich wirkt.«
»Du kannst eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Oberbürgermeister einreichen«, antwortete Richard.
»Und dann?«
»Der schickt deine Beschwerde an den zuständigen Sachbearbeiter beim Jugendamt weiter, damit er Stellung nimmt.«
»Und wie das ausgeht, können wir uns denken. Die Familie sei mit der Erziehung des Kindes hoffnungslos überfordert. Die Entscheidung, das Kind in eine Pfleg e familie zu geben, sei richtig und notwendig gewesen.«
»Neu zu beeltern , wie man so schön sagt«, ergänzte Richard mit schrägem Blick. »Und nach einigen Jahren Rechtsstreit hat sich das Kind bei den neuen Eltern so eingelebt, dass es grausam wäre, es herauszureißen und zu den Eltern zurückzustecken.«
Die Maultaschen klappten das Maul zu in meinem Magen. »Ich dachte, wir leben in einem Rechtsstaat?«
»Jugendämter müssen schwierige Entscheidungen tre f fen«, sagte Richterin Depper. »Es geht um das Wohl von Kindern.«
»Aber was das
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