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Lehmann, Christine

Lehmann, Christine

Titel: Lehmann, Christine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nachtkrater
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Erde.
    »Und was willst du überhaupt?«, fragte Eclipse ung e duldig. »Du hast uns allen das Leben gerettet! Uns a l len.«
    Im Fenster schrumpfte der Mond. Nah und doch schon aus irdischer Perspektive vertraut, schieden sich Meere und Festland, Dunkel und Hell voneinander. Gen Osten das Meer der Heiterkeit, das ins Meer der Ruhe überging und das Meer der Fruchtbarkeit vor sich hin spuckte. Darüber das kreisrunde Mare Crisium. Im Westen schwappte das riesige Regenmeer, um im Ozean der Stürme zu verströmen. Südlich darunter strahlte hell der Krater Tycho in seinem Spritzkranz aus verglastem R e golith.
    »Ich wäre übrigens nicht traurig gewesen«, gestand mir Wim, den Blick unverwandt aus dem Fenster geric h tet, »wenn ich noch von dem Gift getrunken hätte, bevor du uns gewarnt hast, Mademoiselle Cyborg.« Aus gelben Augen blickte er mich an. »Ja, ich bin krank. Ich habe Leberkrebs. Mein größter Wunsch war es, auf dem Mond begraben zu werden. Aber da wird ja nun nichts draus.«
    Was für ein Opfer!
    »Schaut, da ist die ISS!«, rief Eclipse van Wijk.
    In den winzigen Fenstern spannte sich grätig und gli t zernd die Internationale Raumstation mit ihren enormen Sonnensegeln und dem guten Dutzend Modulen in den Orbit über der Erde auf, die sich zu unübersichtlicher Größe aufgebläht hatte.
    Man hätte es genießen können.

62
     
    »Ich sehe hinauf zum Mond und frage mich: Wann fli e gen wir wieder hinauf – und wer wird das sein?« Lost Moon ( Apollo 13), James A. Lovell, 1994
     
    Die Sonne war im Begriff, hinter die Schweizer Alpen zu sinken und das letzte Rot vom See abzuziehen, als wir im Raumbahnhof Friedrichshafen landeten.
    Je zwei Mann mussten uns aus den Schalensitzen kla u ben, so erschlagen waren wir von der Erdenschwere. Es war tiefe Nacht, als man Eclipse, Mohamed, Abdul, Fra n co, Wim und mich endlich übers Rollfeld zum Bus führte. Franco runkste mir den Ellbogen in die Rippen, deutete auf das Gebäude, wo auf einem Balkon Kameras standen, und winkte. Pjotr tat es ihm nach. Abdul gaben die Knie nach. Er musste gestützt werden. Wim hatte man gleich in den Rollstuhl gesetzt, und meine Beine fühlten sich, ung e achtet des windigen Lebens, das ums empfing, wie Blei an.
    Gewaltig war die Süße der Luft, wuchtig ihr Duft nach Wasser und Erde, befremdend die indiskrete Intimität des Windes, der unsere Glieder kühl umstrich. Ein Schwarm Enten zog in Dreiecksformation über den violetten Hi m mel auf dem Weg ins Hinterland. Eine Amsel sang i r gendwo auf den Satellitenschüsseln der Gebäude des Luft- und Raumfahrtbahnhofs. Der Wald stand dunkel und still. Ozon kratzte mir im Hals, und Dieseldämpfe bissen mir in die Nase.
    »Wo ist Yanqiu?«
    »Man bringt sie weg, wenn die Kameras abgebaut sind«, behauptete Franco.
    »Übrigens«, wisperte Wim mir zu, als Franco sich abwandte, während Eclipse den Bus erklomm. »Sie ist im zweiten Monat.«
    »Was?«
    Aber da hatten zwei Männer schon seinen Rollstuhl gepackt und hoben ihn in den Bus. Wir saßen, wir rol l ten. Schwer hingen die Glieder an unserem Rumpf, die Gesäßknochen schmerzten. Unsere Begleiter machten befremdliche Gesichter aus einer Welt, die noch nicht wieder unsere war. Sie lächelten, sie musterten uns oder blickten aus den Fenstern, ohne uns weiter zu beachten. Menschen, die von woanders kamen und, wenn sie ihre Arbeit erledigt hatten, woanders hingehen würden. Sie waren auf uns nicht angewiesen, und wir nur für ein paar Stunden auf sie. Eine seltsame Welt.
    Man führte uns an einer Glastür vorbei, hinter der sich buntes Volk versammelt hatte – Araber im Kaftan mit Kefije, Schwarzhäutige in grauen Anzügen, Blonde in Lederjacken –, ins HHR, eine Kranken- und Erholung s station mit langen Gängen und viereckigen Räumen. Wie und wo genau mir Wim Wathelet aus den Augen geriet, erinnere ich mich nicht, aber die kleine, schiefe Gestalt mit dem gelben, auf einmal alten Gesicht und sein Hän d e druck, schwach und trocken wie Papier, sind mir ins G e dächtnis gegraben. Natürlich hat kein ATV seinen Leichnam wieder auf den Mond gebracht. Der erste Mensch, den man da oben begräbt, wird ein anderer sein.
    Routiniert wie Roboter machte sich eine Armada von medizinisch-technischen Assistentinnen über uns her. Abdul verschwand, Franco ging, seinen Blick auf den Hintern einer deutschen Krankenschwester geheftet, in einen anderen Raum, Pjotr, Eclipse und Mohamed wol l ten sich schon für immer von mir verabschieden.
    »Sie

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