Lehmann, Christine
und Hunderte begabter Studenten zu einer zukunftsträchtigen Konferenz, von deren Ergebni s sen später nie die Rede war.
»Deshalb«, bemerkte Richard, »treffen wir uns hier mit Michel Ardan.«
»Sag bloß, der ist Nobelpreisträger!«
»Nein. Aber er hält heute Abend einen Vortrag in der Inselhalle mit dem Titel ›Fiktion und Fakten außerird i schen Lebens‹. Da drüben, das ist er.« Richard steuerte auf einen schmächtigen Mann zu, der neben dem Schild für Rundfahrten am Kai stand. »Dr. Ardan?«
Lockige Haare bauschten sich im Lindauer Hafe n wind. Der Franzose trug ein kariertes Sakko, Jeans und ein Paar schief gelatschter Schuhe, die sein eklatantes Desinteresse an Mode verrieten.
»Darf ich Ihnen meine Lebensgefährtin Lisa Nerz vo r stellen?«
In den Augen des schmächtigen Franzosen kam ich mir vor wie eine Walküre. Er würdigte mich keines zwe i ten Blickes. Hätte Richard mich ihm nicht irgendwie hochkarätiger vorstellen können, wenigstens als Journ a listin? Nicht nur als seine Dackelf ü hrerin .
Am Hafen stand der Bayerische Hof mit einer Flotte dunkler Wagen mit Stern vor dem Eingang, wie Richard einen fuhr. Aber Michel Ardan deutete auf das langg e streckte und zum Kai hin kommerzialisierte Bahnhofsg e bäude. »Gehen wir was trinken ins Nana ? Die haben eine schöne Terrasse.«
Die Lokalität schleuste uns durch ein ockerfarbenes Treppenhaus, dessen Anmutung zwischen Etablissement und Opiumhöhle changierte, auf eine Dachterrasse, die mit ihren Bastschirmen und Plastikpalmen nach hundert Jahren Strandsommer aussah. Wir nahmen an einem Holztisch an der Brüstung zum Hafen Platz.
»Der Rose vom Weingut Auricht in Meersburg ist ganz passabel .« Michel schnalzte mit der Zunge. »Oder die Weine des Markgrafen von Baden von der Kirchha l de in Birnau, falls Sie es mineralisch trocken mögen. Wir könnten auch gleich ein bisschen was essen!«
Die Herren bestellten Spargel, ich ein Bodenseefe l chen mit Couscous und ein Farny Hofgutsbier. Dass R i chard immun blieb gegen alle Versuchungen mit oder ohne Holzfasslagerung nach Bodensee-Burgunder-Tradition, dämpfte Michels Lust auf seine Henkersmah l zeit nicht. »Ab morgen«, erklärte er großgestig, »sehen mich nur noch Ärzte und Ingenieure. Ich fürchte, ich werde nicht mehr aus dem Raumfahrtbahnhof rausko m men, es sei denn mit der Fähre.«
»Sie sind«, sagte Richard nicht neidlos, »der erste Journalist, der ins Weltall fliegt. Gratuliere!«
»Tja, Geld habe ich keins, aber den richtigen Namen!«
Richard lächelte gezwungen. »Wie der Held von Jules Vernes Reisen zum und um den Mond. ›Beim Disputi e ren kümmerte er sich wenig um Logik und verfocht ge r ne verzweifelte Sachen mit dem Mund und mit den Fäu s ten.‹«
»Eh bien, prügeln tue ich mich nicht. Und so unl o gisch sind meine Ansichten hoffentlich auch nicht. Wie man sieht, braucht man mich jetzt sogar da oben.«
Richards Lider zuckten. Er war im Herzen ein b e scheidener Mensch, so bescheiden, dass er sogar diese Tugend zuweilen hinter Arroganz verbarg. »Weshalb?«
Der Franzose legte den Finger auf die Lippen. »So viel kann ich immerhin sagen: Die Ameisen sind los. Schwarm intelli genz kann sogar die genialsten Ingenie u re besiegen.« Michel kuschelte sich in eitles Gelächter. »Eine Ameise ist dumm, der Ameisenstaat überaus lei s tungsfähig. Ein Schwarm ist intelligenter als das Indiv i duum. Was auch für uns Me n schen gilt. Fragen Sie zweihundert Leute da unten, wie viel der Fährdampfer wiegt, errechnen Sie daraus den Durchschnitt, und dann fragen Sie den Kapitän. Die Übereinstimmung wird bei 95 Prozent liegen.«
Der Spargel und das Felchen kamen. Eine Kaffeefahrt versammelte sich unten am Anleger der Weißen Flotte.
»Wie kommt es«, fragte Richard, als ob er es nicht wüsste, »dass man diesmal einen Journalisten und einen Politiker mit hochnimmt?«
»Wir sollen die Begeisterung für die Raumfahrt w e cken, verstehen Sie? Wenn ein Mann wie ich, ein Fede r fuchser aus Marseille mit abgelaufenen Schuhen, zum Mond fliegen kann, warum dann nicht jedermann. Mill i onen von kleinen Jungs und jung gebliebenen Männern auf der ganzen Welt fangen wieder an zu träumen, n ’ est-ce pas? Und etwas mehr Begeisterung hat die Raumfahrt dri n gend nötig, jetzt, nachdem es den ersten Toten auf dem Mond gegeben hat. Und ehe die Module leer hin- und zurückfliegen …«
»Wieso leer?«, fragte ich unwissend.
»Na, das STS-213 muss runter, weil sein
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