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Lehmann, Sebastian

Lehmann, Sebastian

Titel: Lehmann, Sebastian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Genau mein Beutelschema
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Orientierung, Christina scheint sich hier allerdings perfekt auszukennen. Ich folge einfach und höre ihr fasziniert zu, wie sie erklärt, warum sie Galerieeröffnungen so abstoßend, aber gleichzeitig auch anziehend findet. Natürlich wäre diese Eventisierung von Kultur bedenklich, andererseits könne man es ja nicht ablehnen, wenn Kunst sich ihren rechtmäßigen Platz in der Öffentlichkeit sucht.
    Christina erzählt das alles überaus einleuchtend, und ich nicke zustimmend und streue hin und wieder ein »So sehe ich das auch« oder »Äh, ja« ein.
    Über so etwas unterhalten sich also Christina und Dr. Alban, wenn sie beim Frühstück am WG-Tisch sitzen. Aber bei Christina wirkt dieses Rumtheoretisieren nicht so furchtbar ernst wie bei Alban. Sie lacht ja auch die ganze Zeit, ich kann mich dagegen nicht erinnern, ob ich Dr. Alban schon einmal lachen gesehen habe. Vielleicht erzählt Christina das auch nur, um keine peinliche Stille zwischen uns aufkommen zu lassen. Was wiederum meine Schuld wäre, schließlich habe ich bis jetzt noch nichts Wesentliches zu unserer Konversation beigesteuert.
    Wir machen vor der No-Name-Bar halt, mir ist schleierhaft, wie wir hierhergekommen sind, die Straße sieht ganz anders aus als letztes Mal, es scheinen noch fünf neue Sperrmüllmöbel-Bars eröffnet zu haben, dazu drei Galerien und ein Bio-Fair-Trade-Eiscafé, das ausschließlich laktosefreie Eisspeisen anbietet. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das überhaupt die gleiche Bar ist. Christina deutet auf das neue Café. »Endlich. Ich bin ja auch laktoseintolerant.«
    Wir finden einen kleinen Tisch direkt am großen Fenster, bestellen uns Bier, das einfach »Bier« heißt, aber verdächtignach Beck’s schmeckt, und blicken nach draußen ins Abendlicht.
    »Das Licht hier in Neukölln ist anders als im Rest von Berlin.« Ich bemühe mich, eine Art romantischen Tonfall in meine Stimme zu legen. »Es wirkt wie auf alten, mittelformatigen Fotos aus den siebziger Jahren. Oder eher wie auf mit Smartphones geschossenen Fotos, die mit Hilfe einer App in diese Siebziger-Jahre-Optik verwandelt wurden.«
    Das war immerhin der erste vollständige Satz, den ich zu ihr gesagt habe. Now I speak in whole sentences, Mrs. Franzen! Ich gebe zu, dass ich mir das mit dem Licht schon lange vorher ausgedacht habe. Christina geht gar nicht darauf ein, sondern zündet sich eine Zigarette an. Auch sie scheint in dieses Vintage-siebziger-Jahre-Licht getaucht zu sein. Ihr ganzes Gesicht, die pastellblauen Augen, die fast wie farbige Kontaktlinsen wirken, die hellblonde Haarsträhne über ihrer Nase, die so aussieht, als hätte sie sie eigens so hindrapiert. Diese Art, auf natürliche Weise unnatürlich zu sein. Oder auf unnatürliche Weise natürlich. Postnatürlich.
    »Dr. Alban hat mir erzählt, dass du mich wiedersehen wolltest. Das finde ich natürlich weird, aber auch süß.«
    Also doch. Ich nehme verlegen einen Schluck Bier und sage nichts. Und hat sie gerade wirklich »weird« gesagt? Crazy, ich muss mich wohl langsam an diese Sprache gewöhnen.
    Wir sitzen uns einen Augenblick lang einfach schweigend gegenüber, und es kommt keine peinliche Stille auf. Im Gegenteil, ich genieße diese Stille, und ich glaube, sie auch. Dann klingelt ihr Handy. Ihr Klingelton ist »All That She Wants« von Ace of Base.
    Sie nimmt ein iPhone aus ihrem Stoffbeutel, schaut kurz aufs Display, geht aber nicht ran, sondern lässt es wieder in der Tasche verschwinden. Dabei sehe ich kurz den Buchrücken von »Bis(s) zum Morgengrauen« und muss grinsen. So was liest sie also auch. Das ist bestimmt nicht postironisch.
    »Was ist?« Sie schaut mir direkt ins Gesicht.
    »Nichts.«
    »Sag schon!« Sie blinzelt mich gespielt böse an und tippt ungeduldig mit ihren Fingern auf den Tisch.
    »Nur wegen des Buchs.«
    Christina wird ein bisschen rot um die Nase herum, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
    »Ich finde den ersten Teil am besten«, sage ich schnell und versuche, nicht mehr zu grinsen, sondern zu lächeln. Ein schmaler Grat.
    Christinas Gesichtszüge entspannen sich. »Lese ich jetzt schon das dritte Mal.«
    Ich bin froh, dass Christina wirklich kein weiblicher Dr. Alban ist – sondern auch Sachen macht, die nicht in das geschlossene Hipster-System reinpassen, solche Bücher lesen zum Beispiel. Oder passt das gerade wieder, und ich verstehe es eben nicht, weil ich alt bin und keine Ahnung habe?
    »Nichts beruhigt mich mehr, als solche Bücher vor dem

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