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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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Tageszeit hat sich Ari normalerweise rasiert?»
    «Morgens. Zuerst hat er immer gefrühstückt, dann kam die Dusche und dann das Rasieren. Danach hat er sich angezogen.
    Immer die gleiche Reihenfolge. Wenn er Frühschicht hatte, ist er so aufgestanden, dass er eine Stunde Zeit hatte, ehe er zur Arbeit musste. Er hat es gehasst, sich zu beeilen.»
    «Wissen Sie, wann er heute im Dienst sein sollte?»

    «Um halb sieben. Diese Woche hat er Frühschicht.»
    «Also hat er sich gegen sechs rasiert?»
    Sirpa gab einen zustimmenden Laut von sich.
    «Hat er sich nach dem Rasieren immer am Waschbecken gewaschen?»
    Sirpa schien ratlos, offenbar hatte sie Ari bei seiner morgend-lichen Körperpflege nie zugeschaut. «Meistens hat er geduscht, glaube ich …»
    «Wann hat Ari den Rasierapparat gekauft?»
    «Den hab ich ihm vor zwei Jahren zum Vatertag geschenkt.
    War das die … Ist er nicht in Ordnung?»
    «Wir nehmen ihn mit, unsere Techniker werden ihn untersuchen. Können Sie sich vorstellen, weshalb Ari so unvorsichtig war, mit einem angeschlossenen Rasierer in der einen Hand die andere Hand ins Waschbecken zu halten?»
    «Ich weiß nicht … Oder … vielleicht …» Sirpa zeigte auf das Bügelbrett, auf dem noch das Bügeleisen stand. Daneben lag ein frisch gebügeltes Hemd.
    «Ari hat es sicher so eilig gehabt, dass ihm zum Duschen die Zeit nicht gereicht hat, weil ich nicht da war, um Frühstück zu machen und ihm das Hemd zu bügeln», sagte Sirpa mit gepresster Stimme, ihre Erschütterung war nicht zu überhören. Sie brauchte die Hilfe eines Therapeuten. Sobald wir wieder im Schutzhafen waren, würde ich mich darum kümmern. Das war ich ihr schuldig.
    Dann wandte sich Wang an mich. Ich sei doch gestern in der Wohnung gewesen, in der nachweislich zu der Zeit keine Leiche gelegen hätte. Ob sich der Rasierer auf seinem gewohnten Platz vor dem Spiegel befunden habe?
    «Darauf habe ich nicht geachtet. Ich habe nur die Kinder-zahnpasta mitgenommen», antwortete ich unschuldig. Das war alles. Als ich mich neben Sirpa auf die Rückbank setzte, war mir schwindlig.
    Ich hatte einen Mord begangen.

    Vier
    Vier

    Ari Väätäinens Tod wurde offiziell zum Unfall erklärt, verursacht durch ein defektes Elektrogerät und Unachtsamkeit. Sirpa blieb mit den Kindern im Schutzhafen, bis die Wasserschäden besei-tigt waren. Dann zogen sie in ihre alte Wohnung. Sirpa, die von Beruf Köchin war, sah sich nach Arbeit um und bekam bald eine Vertretungsstelle in der Küche der Schule, die Marjo und Matti besuchten. Für Toni fand sich ein Kindergartenplatz.
    Ich ging sowohl zu Irja Aholas als auch zu Ari Väätäinens Beerdigung und hatte bei der ersten viel mehr Schuldgefühle als bei der zweiten. Pauli deutete an, Ari Väätäinens Tod sei Gottes Wille gewesen. Das hätte ich auch gern geglaubt. Aber den Gott, den ich aus der Sonntagsschule kannte, hatte ich irgendwann in diesem Sommer verloren, und Paulis Gott schien mir kein ver-lockender Ersatz. Ich musste in meinem Leben ohne höhere Mächte auskommen.
    Zu der tötenden Säde, die das Kabel an Ari Väätäinens Rasierapparat angeschabt hatte, konnte ich nicht lange auf Distanz bleiben. An den langen, von Übelkeit erfüllten Abenden und in den Nächten, in denen der Tod wirklicher war als das Leben, brachte sie mich in ihre Gewalt. Die Oktoberdunkelheit schlug mir aufs Gemüt, ich wusste kaum, wie ich die Arbeitstage überstehen sollte. An dem Seminar über häusliche Gewalt konnte ich nicht teilnehmen, weil die Hälfte des Personals mit einer schweren Darmgrippe im Bett lag. Ich blieb verschont, Pauli ebenfalls, daher überlegte ich, ob der Virus wohl nur Menschen befiel, die gesund und reinen Herzens waren.
    Im Chor begannen die Proben für das Weihnachtskonzert, was für mich zusätzliche Arbeit bedeutete. Ich hatte mit Pauli vereinbart, dass ich den Kopierer des Frauenhauses für die Noten benutzen durfte; die Kosten wurden dem Chor in Rechnung gestellt. Natürlich war es verboten, Noten zu kopieren, und ich hatte früher oft gewitzelt, ich würde wegen der vielen illegalen Kopien eines Tages in der Hölle landen. Jetzt, wo ich ein Menschenleben auf dem Gewissen hatte, erschien mir das Kopieren nicht unbedingt als schwere Sünde.
    Im vorigen Jahr waren wir so ehrgeizig gewesen, für alle Chormitglieder die gesammelten Weihnachtslieder von Sibelius, arrangiert für gemischten Chor, anzuschaffen. Sie hatten mehr als hundert Finnmark pro Heft gekostet. Ich hatte alle Hefte nummeriert

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