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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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vergessen, sie vorzuwarnen, mir war vor allem wichtig gewesen, dass wir mit einer Frau sprachen. Allerdings würde Hauptkommissarin Kallio auch ihren männlichen Ermittlern nicht erlauben, Opfer häuslicher Gewalt geringschätzig zu behandeln, davon war ich überzeugt.
    «Ari hat Sie schon dreimal krankenhausreif geschlagen», las Wang aus ihren Unterlagen ab. «Verstehen Sie mich nicht falsch, ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus, dass Sie keine Anklage erhoben haben. Hoffentlich halten Sie diesmal durch. Das Urteil im letzten Herbst ist aus verschiedenen Gründen unerhört milde ausgefallen. Anfang nächsten Jahres tritt das Kontaktverbotsgesetz in Kraft, am besten stellen Sie gleich den Antrag.
    Aber erledigen wir zuerst die Anzeige.»
    Als Wang fragte, wie das mit dem Haareausreißen und Kahl-scheren genau vor sich gegangen war, glaubte ich in ihren tief-schwarzen Augen ein wütendes Funkeln zu sehen. Die Polizei darf nicht Partei ergreifen, aber ich war mir sicher, hier stand sie auf unserer Seite.
    «Wir holen Ari zum Verhör, und mit Ihren Kindern müssen wir auch sprechen, zumindest mit der Ältesten. Ich kann ja verstehen, dass Sie Ihr Aussehen verbessern wollten, aber es wäre hilfreich, wenn wir wenigstens ein Foto von dem Ergebnis des gewaltsamen Haarschnitts hätten. Sie haben im Schutzhafen nicht zufällig eins gemacht?»
    «Nein», seufzte ich, daran hatte ich nicht gedacht. «Sirpas Kopfhaut ist aber immer noch wund und voller Narben, darüber können wir sicher ein ärztliches Attest bekommen.» Die bluti-gen Haare im Abfalleimer kamen mir in den Sinn. Hoffentlich hatte Ari sie noch nicht weggeworfen.
    «Es ist Ihnen im Schutzhafen doch wohl bekannt, dass Gewaltopfer so schnell wie möglich ärztlich untersucht werden sollten», mahnte Wang, und ich kam mir immer dümmer vor.

    Natürlich wusste ich das, aber als Sirpa am Montag kam, war ich wegen Irja Ahola so durcheinander, dass ich nicht sorgfältig genug gearbeitet hatte. Ich hatte plötzlich das gleiche bohrende Gefühl wie auf dem Sozialamt, wo ich für die einen ein geiziges Miststück war, das sich weigerte, armen Leuten zu geben, was ihnen zustand, und für die anderen eine lächerlich naive Sozial-tante, die das Geld, das rechtschaffene Steuerzahler im Schwei-
    ße ihres Angesichts erarbeitet hatten, an alle möglichen Betrü-
    ger verteilte.
    Ich dachte an Ari Väätäinens Rasierapparat und begriff, wie kindisch ich gewesen war. Niemand war so sorglos, das beschä-
    digte Kabel zu übersehen oder beim Rasieren den Wasserhahn aufzudrehen.
    Sirpa unterschrieb die Anzeige. Ein Sonnenstrahl fiel zum Fenster herein und ließ ihre kurzen Haare glänzen wie reifes Getreide. Die Frisur stand ihr, sie betonte das zierliche Kinn und den schmalen Hals, der noch keine Altersmerkmale zeigte.
    Wenn ich mich richtig erinnerte, wurde sie im nächsten Sommer erst dreißig.
    Es klopfte. Kriminalhauptmeister Koivu kam herein, ein blonder Teddybär von einem Mann, der trotz seiner Größe sanftmü-
    tig wirkte. Er war der einzige Mann in Kallios Abteilung, vor dem ich keine Angst hatte.
    «Entschuldige die Störung», sagte er hastig, ohne Sirpa und mich recht wahrzunehmen. «Dauert es bei dir noch lange? In der Alakartanontie ist eine Leiche gefunden worden. Offenbar unser alter Bekannter Ari Väätäinen.»
    Einen Moment lang war ich völlig taub. Ich sah Koivus Gesicht. Sein Mund bewegte sich, er sprach weiter, hörte dann plötzlich auf, als ihm klar wurde, wer da im Zimmer saß. Wangs rundes Gesicht nahm die Farbe von blassem Wildleder an. Dann fing Sirpa an zu schreien.
    Ich ging zu ihr, strich ihr an der Stelle übers Haar, wo es am kürzesten war. Der Schrei ging in hysterisches Weinen über. Ich suchte ein Taschentuch und ließ in meiner Verwirrung den halben Inhalt meiner Handtasche auf den Boden fallen. Koivu stand hilflos mitten im Zimmer, Wang behielt als Einzige die Beherrschung.
    «Ist er eindeutig identifiziert worden?», fragte sie.
    «Der Nachbar und der Hausmeister schienen sich sicher zu sein. Komm auf den Flur, ich erzähle es dir.»
    «Wie ist … Ari …?» Sirpa blickte zu Koivu auf, in ihren Augen sah ich eine ganze Gefühlsskala, von Hoffnung bis Entsetzen.
    «Wir wissen es noch nicht genau», wich Koivu aus. «Äh …
    mein Beileid.»
    «Wo ist er? Ich will ihn sehen! Ich will mit eigenen Augen sehen, dass es unser Ari ist!» Sirpa stand auf, ich versuchte vergeblich, sie daran zu hindern.
    «Zuerst müssen wir uns vergewissern,

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