Lehtolainen, Leena
und mir wie immer aufgeschrieben, wer welches Heft bekommen hatte. Fast alle hatten ihr Exemplar nach Weihnachten zurückgegeben, aber einige fehlten.
Als ich bei der Probe die Notenhefte verteilte, nahm sich Timo Takala, unser erster Tenor, unverfroren ein neues Heft.
«Timo, ich fürchte, du hast das vorige noch nicht zurückgegeben», sagte ich freundlich.
Timo Takala ließ sich von keinem etwas sagen. Er wusste genau, wie wichtig er für den Kirchenchor von Süd-Espoo war. An Tenören herrschte chronischer Mangel, vor allem an solchen, die wie Timo von Natur aus eine hohe Stimmlage hatten und das eingestrichene A ungequetscht hervorbrachten. Timo wäre jederzeit in einen der bekannten Chöre aufgenommen worden.
Zwar hätte er dort nicht so viele Solopartien bekommen wie bei uns, aber dafür wären ihm die schleppenden anderen Tenöre und die alternden Soprane erspart geblieben, deren Vibrato den Umfang eines Halbtons hatte.
«Wirklich nicht?» Entrüstet verzog Timo das rundliche, aber immer noch ganz hübsche Gesicht. Nicht einmal der Chorleiter wagte ihm zu widersprechen. Wenn Timo meinte, eine Stelle müsse forte gesungen werden, dann wurde sie forte gesungen.
«Nein. Ich erinnere mich, du hast gesagt, du hättest die Noten Weihnachten bei deinen Schwiegereltern vergessen. Sind sie immer noch dort?»
Timos volle Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. «Du bist aber gut informiert, Schätzchen. Wahrscheinlich hast du Recht.
Da muss ich wohl meine Schwiegermutter bitten, mir die Noten zu schicken. Für die Probe kannst du mir doch ein Heft leihen, oder? Auswendig kann ich die Partie nach einem Jahr nicht mehr, das ist selbst für mich zu viel.» Er sah mir tief in die Augen und machte genau das Gesicht, das alle Frauen zum Seufzen brachte, wenn er in «Die Höhen Kareliens» das Solo sang.
Folgsam reichte ich ihm die Noten, aber ich vergaß keineswegs, was wir abgemacht hatten. Es war schlechte Luft im Pro-beraum, und es kam mir lächerlich vor, mitten im verregneten Oktober Weihnachtslieder zu singen. Die Worte berührten mich nicht. Ich wusste, ich würde die Lieder dieses Jahr zum letzten Mal in der Öffentlichkeit singen.
Nach der Probe steckte Timo Takala die Noten ein und ging.
«Timo, was ist mit den Noten?» Ich lief ihm nach und holte ihn an der Tür des Gemeindesaals ein.
«Was ist denn?»
«Die Sibelius-Noten», keuchte ich.
«Ich hab’s eilig. Du bekommst sie nächstes Mal zurück.» Er griff nach der Klinke, und ich packte seinen Arm.
«Die nimmst du nicht mit nach Hause! Das sind teure Noten!
Der Chor kann es sich nicht leisten, dauernd neue zu kaufen.»
«Wieso bist du denn auf einmal so kleinlich? Das sind nicht deine Noten, die gehören dem Chor. Wenn du nicht ein bisschen flexibel sein kannst, müssen wir uns eben einen anderen Notenwart suchen», knurrte Timo. Er wusste ganz genau, wer von uns beiden unersetzlich war. Ein paar Chormitglieder waren näher gekommen, sie standen auf Timos Seite, das war mir klar. Stille, brave Altstimmen wie mich gab es in jedem Chor massenweise. Niemand würde mir nachweinen. Der Gedanke versetzte mich in Rage.
«Gib die Noten her! Ich hab die Nase voll davon, dass du sie ständig verlierst. Vom Chorbuch hast du auch mindestens drei Stück, rate mal, was die kosten!»
Timo machte ein gequältes Gesicht. Seufzend bückte er sich und öffnete seine Aktentasche.
«Manche Frauen kommen früh in die Wechseljahre! Du solltest dir einen Mann zulegen, Säde, dann wärst du nicht so zi-ckig. Hier hast du deine kostbaren Noten!» Er gab mir das Notenheft mit so wütendem Schwung, dass es mir schmerzhaft gegen die Brust schlug. Ich schwankte, fiel aber wenigstens nicht hin.
Auf dem Heimweg überlegte ich, ob ich sofort aus dem Chor austreten sollte. Von der Arbeit einmal abgesehen, war neben Sulo das Singen mein einziger Lebensinhalt. Ich genoss es, gemeinsam mit anderen zu singen, ich fühlte mich den anderen nahe, ich war ein Teil des unvollkommenen, aber ehrgeizigen Instruments, das unsere Stimmen bildeten. Bei einem Konzert hatte ich einmal ein paar alte Leute weinen sehen, es war ein grandioses Gefühl, bei etwas mitzuwirken, das Menschen zu Tränen rührte.
Ich beschloss, nicht aufzugeben. Immerhin hatte ich Ari Vää-
täinen erledigt und Pauli dazu gebracht, mich für voll zu nehmen. Von so einem eingebildeten Tenor ließ ich mir doch mein liebstes Hobby nicht wegnehmen! Im Gegenteil, ich würde auch alle anderen Zweit- und Drittexemplare
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