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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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einem nahen Angehörigen misshandelt worden war.
    Ich kannte die Leute aus dem Haus nicht besonders gut, obwohl ich an den gemeinsamen Aufräum- und Verschönerungs-aktionen auf dem Hof teilnahm und bei den direkten Nachbarn die Blumen goss, wenn sie verreist waren. Ich hatte keinen Anlass, mich an den Gesprächen am Sandkasten zu beteiligen oder mich den verheirateten Frauen anzuschließen, die abends gemeinsam spazieren gingen. Im Chor waren noch ein paar andere alte Jungfern, mit denen ich manchmal ins Kino und zu einem Glas Wein ging. Als ich dreißig wurde, hatte ich aufgehört, daran zu glauben, einen Mann zu finden. Wahrscheinlich war es klug gewesen, allein zu bleiben. Bei mir zu Hause gab es niemand, vor dem ich mich fürchten musste.
    Aber die Einsamkeit schützte nicht vor allem.
    Ich schaffte es kaum, meine Einkäufe zum Fahrrad zu tragen, so müde war ich. Nach dem Abendessen schlief ich über der Fernsehdiskussion ein. Die Wirtschaftskrise in Russland war weit weg. Gegen drei Uhr nachts wurde ich wach, zog mich aus, putzte mir die Zähne und kroch ins Bett.
    Am Mittwochmorgen hatten wir unsere wöchentliche Besprechung. Wir gingen die momentane Situation unserer Klientinnen und ihre Rückkehrmöglichkeiten durch und berieten, ob es notwendig war, uns mit den Angehörigen in Verbindung zu setzen. Früher hatte Pauli die Sitzung immer mit einer Morgen-andacht begonnen, aber im Sommer vor einem Jahr hatten wir eine neue Putzfrau bekommen, eine Somalin, die aus religiösen Gründen nicht an der Andacht teilnehmen konnte. Als Pauli in Urlaub ging, hatte Maisa, seine Vertreterin, einfach mit den An-dachten aufgehört. Abdulkadir ging inzwischen auf die Haus-haltsschule, aber wir waren nicht auf die Idee gekommen, wieder wie früher um Segen für unsere Arbeit zu bitten. Vielleicht glaubten wir nicht mehr an die Wirksamkeit von Gebeten.
    Ich hatte befürchtet, Pauli würde wieder mit mir über die Vää-
    täinens streiten, aber zu meiner Überraschung erklärte er, Sirpa und die Kinder brauchten Zeit, um sich zu überlegen, wie ihr Leben weitergehen sollte. Als ich für den Nachmittag einen Termin bei Kriminalmeister Wang ankündigte, sagte er: «Na gut, wenn Sirpa es will.»
    Hatte er endlich angefangen, mich ernst zu nehmen? Hielt er mich nicht mehr für ein willenloses Geschöpf, das sich seinen Anordnungen fügte? Oder hatte Ari Väätäinen gestern etwas gesagt, was ihn umgestimmt hatte?
    Am Ende der Besprechung zog Pauli mit gequälter Miene einen braunen DIN-A4-Umschlag hervor.

    «Äh … eine Einladung zu einem Seminar. Von den anderen.»
    Der Schutzhafen hatte keine guten Beziehungen zum anderen Frauenhaus in Espoo, Pauli sah bei «den anderen» nur män-nerfeindliche Familienzerstörerinnen, denen es nicht um Heilung, sondern um Schuldzuweisung ging. Ich kannte die Tätigkeit meiner Kolleginnen nicht gut genug, um zu beurtei-len, ob er Recht hatte.
    «Was für ein Seminar ist das?», fragte Maisa. Sie hatte von uns allen am wenigsten Vorurteile gegen die anderen.
    «Da wird die neue Statistik über Gewalt in der Familie vorgestellt. Die kann man ja wohl auch ohne Seminar lesen», meinte Pauli geringschätzig.
    «Wann und wo?», hörte ich mich fragen. «Ich habe in diesem Jahr noch keine Fortbildung gemacht. Ich würde gerne hingehen.»
    Pauli zog die leicht ergrauten, buschigen Augenbrauen zusammen, seine Stimme war eine Spur lauter als gewöhnlich:
    «Am sechsten Oktober im Tapiola-Saal. Wir legen deinen freien Tag auf den Sechsten, dann kannst du hingehen.»
    «Berufliche Fortbildung wird auf die Arbeitszeit angerech-net.»
    Es war mir immer schwer gefallen, jemandem zu widersprechen. Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, sprach ich im Allgemeinen undeutlich und leise. Jetzt war meine Stimme kühl und klar wie ein Gebirgsbach im November und ich blickte Pauli fest in die Augen. Am anderen Tischende sagte Maisa, ich sei tatsächlich an der Reihe und würde natürlich in der Arbeitszeit hingehen. Maisa hörte selbst nicht gern Widerspruch. Jetzt freute ich mich über ihre Unterstützung.
    Pauli reichte mir den Briefumschlag, als könnte er ihn gar nicht schnell genug loswerden. Erst jetzt kam ich auf die Idee, im Kalender nachzusehen. Der sechste Oktober … Ja, da hatte ich Zeit. Anfang Oktober würde alles ganz leicht sein.
    Sirpa war überrascht, als sie Kriminalmeister Wang sah, sie hatte wohl nicht damit gerechnet, vor einer chinesisch aussehenden Frau Anzeige zu erstatten. Ich hatte

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