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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeit zu sterben
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zurückfordern. Ich wusste, dass auch andere Timos Selbstgefälligkeit satt hatten. Es war meine letzte Saison im Chor, aber ich würde nicht kleinlaut gehen, sondern mit ordentlichem Getöse.
    Mitte Oktober lag ein Zettel von der Hausverwaltung im Briefkasten. Die Heizungen sollten überprüft und gegebenen-falls entlüftet werden. Die Bewohner wurden gebeten, die Mö-
    bel vor den Heizkörpern wegzuschieben und die Männer der Wartungsfirma auf Haustiere aufmerksam zu machen.
    Der Gedanke, dass in meiner Abwesenheit jemand in meine Wohnung kommen würde, war mir unerträglich, gerade als wür-de mir jemand zu nahe treten. Ich dachte an Ari Väätäinen und das Kabel an seinem Rasierapparat. Woher sollte ich wissen, was die Heizungsleute anstellten?
    Außerdem machte ich mir Sorgen um Sulo. Er versuchte immer zu entwischen, sobald die Tür aufging. Während die Männer ihre Werkzeugkisten in die Wohnung brachten, würde Sulo bestimmt weglaufen. Ich wäre an dem festgesetzten Tag gern zu Haus geblieben, aber das ging nicht. Am nächsten Tag wollte der Bürgermeister für Gesundheit und Soziales das Frauenhaus besuchen. Und ich hatte versprochen, zusammen mit der Köchin karelische Piroggen zu backen.
    Ich klebte große Zettel an die Wohnungstür und an die Türen zum Flur, zum Wohnzimmer und zum Schlafzimmer: BITTE
    AUFPASSEN, DASS DIE KATZE NICHT WEGLÄUFT! Hoffentlich waren die Heizungsleute keine Katzenhasser. In meiner vorigen Wohnung hatte der Mann vom Reparaturdienst nach Sulo getreten, weil ihm die Katze um die Beine strich, während er den Wasserhahn reparierte. Der arme Sulo war nur an mich ge-wöhnt. Er begriff nicht, dass manche Menschen unfreundlich sein konnten.
    Das Piroggenbacken klappte bestens. Minna war nicht besonders geschickt, wenn es darum ging, den Teig über der Füllung nach der traditionellen Art zu fälteln, aber sie rollte ihn hauchdünn aus. Zwei Klientinnen halfen mit. Die eine, Tiina Leiwo, war am Vorabend ins Frauenhaus gekommen, zum ersten Mal. Sie erwies sich als geborene Fältlerin, obwohl sie nicht gut sehen konnte: Das eine Auge war zugeschwollen. Ich war am Morgen mit ihr beim Arzt gewesen. Unsere Klientinnen gingen im Allgemeinen in das kommunale Ärztezentrum, aber Tiina hatte darauf bestanden, in eine Privatpraxis gebracht zu werden, wo sie nicht so lange zu warten brauchte und nicht so vielen Leuten begegnete. Ich war nicht mit ins Behandlungszimmer gegangen, wusste also nicht, wie sie dem Arzt ihr blaues Auge und die blauroten Würgemale am Hals erklärt hatte. Tiina hatte das nicht zum ersten Mal erlebt, schien aber zu glauben, ihr Ehemann würde mit dem Prügeln aufhören, wenn sie ihm mit Trennung drohte. Frauen wie sie suchten oft in einem Hotel Zuflucht, aber Tiina fürchtete, auf Bekannte zu stoßen. Diese Gefahr bestand im Frauenhaus nicht.
    «Es fängt immer auf die gleiche Weise an. Pasi geht mit Kunden essen und versucht dabei natürlich, Geschäfte abzuschlie-
    ßen. Wenn er mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, lässt er seine Wut an mir aus», erklärte Tiina nach dem Arztbesuch im Taxi.
    Mittlerweile tat es ihr Leid, Hals über Kopf in den Schutzhafen gerannt zu sein, denn in Frauenhäusern landeten ihrer Meinung nach nur Loser aus der Unterschicht. Anzeige wollte sie nicht erstatten, weil das sowohl Pasis als auch ihrer eigenen Karriere schaden könnte. Sie hatte in der Bank, wo sie arbeitete, angerufen und erzählt, sie hätte beim Aerobic eine Hantel aufs Auge bekommen und wäre wegen Verdacht auf Gehirnerschütterung ein paar Tage krankgeschrieben. Die Geschichte wirkte ungewöhnlich überzeugend. Ich hatte über die Jahre hinweg alle möglichen Erklärungen gehört, fast immer klangen sie erlogen. Allerdings sind die meisten Menschen gutgläubig.
    Schließlich ist es bequemer zu denken, die Tochter sei die Treppe hinuntergefallen als vom Lieblingsschwiegersohn verprügelt worden.
    Obwohl ich mir ein Tuch umgebunden hatte, musste ich vor dem Backen einige Haare von den Piroggen zupfen. Als ich mich noch einmal kämmte, bevor ich nach Hause fuhr, hingen mehr Haare im Kamm als je zuvor. Es war wohl Zeit für eine Vitaminkur. Ich beschloss, auf dem Heimweg einen Abstecher zum Einkaufszentrum zu machen, obwohl ich so schnell wie möglich nach Hause wollte, um mich zu vergewissern, dass mit Sulo alles in Ordnung war.
    «Was verursacht denn den Haarausfall?», erkundigte sich die übereifrige Verkäuferin im Reformhaus.

    «Wahrscheinlich Stress. Vielleicht

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