Lehtolainen, Leena
Polizistin oder was? Was hättest du zu mir gesagt, wenn ich den Kerl angezeigt hätte? Hättest du mich ernst genommen?«
»Natürlich.«
»Du hättest mir keine feministische Moralpredigt gehalten, weil ich Stripperin bin?«
»In so einer Situation hält man keine Moralpredigten.« Mein Versuch, freundlich zu sein, verpuffte wirkungslos, ich spürte die Feindseligkeit, die Milla ausstrahlte, wie beißend kaltes Eis.
»Aber wer keine Anzeige erstattet, macht sich doch erst recht zum Opfer!«, wetterte eine üppige Frau in der ersten Reihe, die eifrig mitgeschrieben hatte. »Durch dein Verhalten bestätigst du diesen Kerl und seinesgleichen ja nur in ihrer Auffassung, dass sie dich, und damit jede Frau, einfach missbrauchen können.
Wann ist das passiert? Vielleicht kannst du jetzt noch Anzeige erstatten?«
»Keinen Bock«, sagte Milla. »Und der Typ hat sich zum Glück seitdem nicht mehr blicken lassen.«
»Diese Inzestgeschichte …«, begann Elina mit der ruhigen, einfühlsamen Stimme eines Menschen, der daran gewöhnt ist, schmerzhafte Dinge anzusprechen. »Gibt es in diesem Zusammenhang etwas, worüber du mit einer Polizistin sprechen möchtest? Ich halte es für sinnvoll, dass wir uns auf polizeiliche Fragen konzentrieren, solange Kriminalhauptmeister Kallio bei uns ist.«
»Ach was, alles längst verjährt«, schnaubte Milla. »Über mich zu reden bringt nichts. Sprecht ihr ruhig über eure Autos oder über entlaufene Kätzchen. Ich geh eine rauchen.« Milla drehte sich um und stolzierte zur rosaroten Tür hinaus.
Elina Rosberg wirkte wie vor den Kopf geschlagen, ihr war momentan die Kontrolle entglitten. Sie sah abwechselnd die Kursteilnehmerinnen und mich an, als erwarte sie, dass eine von uns etwas sagte. Leicht gezwungen erklärte ich die Prozedur der Anzeigenerstattung, obwohl ich selbst verwirrt war, weniger von Millas Verhalten als von Elinas Reaktion. Elina Rosberg war mir seit langem ein Begriff. Vor fünfzehn Jahren hatte sie als Psychologin für eine Jugendzeitschrift geschrieben, die meine Schwester abonniert hatte. Ich ging damals schon in die Oberstufe und fühlte mich über das Blatt erhaben. Nur Elinas Seite las ich regelmäßig, weil sie weder moralisierte noch die Probleme Jugendlicher beschönigte, sondern sachlich und bestimmt auf die Fragen der Leser antwortete. Elina war eine Art Vorbild für mich. Als ich mich an der Polizeischule bewarb, hatte ich gehofft, die zupackende, verständnisvolle Art, die ich an ihr bewunderte, in meinen Beruf einbringen zu können. Obwohl mir diese Illusion bald genommen wurde, war ich davon ausgegangen, dass Elina ihre Arbeit immer noch mit derselben Begeisterung tat wie damals mit knapp dreißig Jahren. Im Kurszentrum Rosberga konnte sie sich auf die Fälle konzentrieren, die sie besonders interessierten, auf Essstörungen und andere frauentypische psychische Symptome.
Es schienen keine Fragen mehr zu kommen. Ich wollte gerade meine Unterlagen einpacken, da stand plötzlich die Frau mit dem Dutt auf. Sie öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und sah Elina Hilfe suchend an. Als Elina ihr zunickte, holte sie tief Luft:
»Kann man jemanden daran hindern, seine Kinder zu sehen?«
Ihre Stimme zitterte und brach wie ein zu laut gespieltes Instrument, ihr farbloses Gesicht rötete sich. Es schien eine gewaltige Anstrengung für sie, diese wenigen Worte auszuspre-chen.
»Worum geht es konkret? Ohne die Einzelheiten zu kennen, kann ich nichts Genaues sagen.«
Die Frau sah verschreckt aus und senkte den Kopf. Elina nahm ihr die Antwort ab:
»Johanna hat ihren Mann und die Kinder verlassen, sie will die Scheidung. Beide fordern das Sorgerecht für die Kinder, aber Johannas Mann lässt es nicht zu, dass sie ihre Kinder besucht.«
»Dazu hat er kein Recht, wenn dir der Kontakt nicht per Gerichtsbeschluss verboten wurde.« Ich sah die Frau an, die bei dem Wort »Gerichtsbeschluss« zusammenzuckte. »Warum will dein Mann dich nicht zu den Kindern lassen?«
Diesmal antwortete sie selbst, fast trotzig, obwohl ihr die Stimme zu versagen drohte:
»Weil ich unser jüngstes Kind getötet habe.«
Es war, als hätten sich die Kursteilnehmerinnen schlagartig in kalte, starre Schneefrauen verwandelt. Nach einem kollektiven Stöhnen des Entsetzens wurde es mäuschenstill, aber alle hatten den Blick auf Johanna geheftet, deren Gesicht nun wieder grau geworden war. Auch ich starrte sie an, ihren gesenkten Kopf, das Kleid, das an ihrem ausgemergelten Körper
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