Lehtolainen, Leena
paar Monate vor seinem Selbstmord Schnittwunden zugefügt, darum besuchte ich ihn auf der Krankenstube.«
»Schnittwunden?« Davon hatte ich nie etwas gehört, in keinem der Briefe war davon die Rede gewesen.
»Ja. Er hat versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden, aber mit einem stumpfen Messer ist das gar nicht so leicht. Er weigerte sich, mit mir zu sprechen, schickte mich weg. Und gegen seinen Willen kann man niemandem helfen. Damals hat er kaum noch etwas gegessen, er war so dürr und ausgetrocknet
…«
»Und dann hat er sich aufgehängt …«
»Ein typisches Beispiel für einen sinnlosen Tod. Einige Männer hatten heimlich Hausbier gebraut, und Rane hatte mit ihnen getrunken. Sie wurden erwischt, man drohte ihnen mit der Isolierzelle. Im Morgengrauen, als der Rausch allmählich nachließ, hat Rane sich dann mit zusammengeknoteten Laken am Haken der Deckenlampe erhängt. Er wog kaum noch fünfzig Kilo, daher hielt der Haken überhaupt.«
Ich starrte auf den Milchschaum in meiner Tasse, doch auf dem Schaum zeichnete sich das Bild eines kleinen, leichten Mannes ab, der in der Luft hing.
»Als du mit ihm gesprochen hast … was hat er da gesagt? Hat er seine Unschuld beteuert?«
»Nein. Ich weiß, dass er den Mord an seinem Vater nie zugegeben hat, aber das ist nicht ungewöhnlich. Jeder streitet gelegentlich seine Taten ab, ob es sich nun um gewichtige Dinge handelt oder um Bagatellen. Ich selbst bin auch nie unpünktlich, weil ich zu spät losgehe, sondern nur weil der Bus Verspätung hat. Rane war offensichtlich einer von denen, deren Persönlichkeit sich unter Alkoholeinfluss verändert. Zweifelst du an seiner Schuld?«
»Ich weiß nicht …«, begann ich, denn ich hatte das Gefühl, vor einer Tür zu stehen, die ich nicht öffnen wollte. Ein weißes Nachthemd mit blutigem Saum, meine bloßen Füße und das Messer. Ein greller Schrei, hastige Schritte. War das, was ich vor mir sah, Erfindung oder echte Erinnerung? Hatte ich das zerbrechliche Glück der letzten drei Nächte gestohlen, würde ich jetzt die Wahrheit erfahren? Ich zwang mich, die Tür zu öffnen, doch sie war so schwer, dass ich meine ganze Kraft aufbieten musste, und dennoch …
FÜNFUNDZWANZIG
Sirkka
… konnte ich mich mit der Situation nicht abfinden. Kaitsu blieb vielleicht für den Rest seines Lebens gelähmt, keine Frau würde ihn nehmen, ich hätte ihn wieder wie ein kleines Kind am Hals. Und dann würde sich für mich kein Mann mehr interessieren, denn wer will schon eine Frau, die mit ihrem behinderten Sohn zusammenlebt?
Ich wusste, dass ich solche Gedanken nicht haben durfte.
Kaitsu war immerhin mein Kind. Natürlich würde ich ihn zu mir nehmen, wenn er es wollte. Ich fürchte, er sah mir die Erleichterung an, als er sagte, er stehe auf der Warteliste für ein Behindertenheim, in dem er eine separate Wohnung beziehen könne.
Er konnte das linke Bein schon etwas besser bewegen, war aber nach zehn Metern Gehen so erschöpft, dass er sich hinset-zen musste. Ich erinnerte mich, wie wütend er als Kind oft gewesen war, weil er unbedingt vorwärts wollte, aber zuerst mit dem Krabbeln und dann mit dem Laufen Schwierigkeiten hatte.
Als ich ihm das Radfahren beibrachte, waren wir beide mit den Nerven am Ende. Damals hatte ich mir gewünscht, der Junge hätte einen Vater, der diese Aufgabe übernahm, wie es Väter eben tun. Zum Schwimmenlernen habe ich ihn dann in einen Kurs gesteckt.
Meine Mutter hat nie über Ranes Tod gesprochen und nie gesagt, dass sie ihn vermisste, aber ich glaube, Rane war manchmal wirklicher für sie als wir Lebenden. Nach seinem Tod begann ihre Auszehrung. Klein und zierlich war sie immer gewesen, aber nachdem Rane Selbstmord begangen hatte, war sie eingeschrumpft wie eine alte Frau, obwohl sie damals noch keine fünfzig war. Eine vor der Zeit gealterte Frau. Als ich jetzt in den Spiegel schaute, sah ich Mutters Gesicht in meinem eigenen, obwohl ich noch nicht wie eine Oma wirkte: nur wenige Falten, die eigenen Zähne im Mund, Wangen und Kinn hingen noch nicht herunter. Wie würde mein Gesicht aussehen, wenn ich mein eigenes Kind hätte begraben müssen? Ich sah Mutter vor mir, wie sie auf dem Sterbebett lag. Ihr Gesicht war uralt, es spielte keine Rolle, ob sie einundsiebzig oder hundert war. Ihre unendliche Müdigkeit hatte mit dem Alter nichts zu tun.
Kurz nach Kaitsus Unfall kam in »Verheimlichtes Leben« die Folge, in der Miia stirbt. Ich konnte sie nicht live sehen, weil ich im Krankenhaus
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