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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: du hättest vergessen Du dachtest
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aussahen, im Gegenteil, man bewunderte sie. Dezentes Auftreten war das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte. Der dreißigste Geburtstag war eine Tragödie, die man nur überlebte, indem man die erste Schönheitsoperation über sich ergehen ließ. Als ich in der fünften Klasse zum ersten Mal meine Tage bekam, war meine Mutter so alt gewesen wie ich jetzt. Ich hatte nie daran gezweifelt, dass sie damals schon erwachsen war.
    Zu meiner neuen Therapeutin hatte ich gesagt, dass ich wahrscheinlich nicht darüber hinweggekommen wäre, wenn ich Yazus SMS zu spät gelesen hätte. Der Selbstmord meines kleinen Bruders hätte mich garantiert wieder in Depressionen und Selbstzerstörung getrieben. Immer noch wunderte ich mich, wie kühl und überlegt ich gehandelt hatte. Ich hatte die Nachricht gelesen, sofort im Rehazentrum angerufen und darauf bestanden, dass jemand nach Kaitsu sah. Als ich wenig später erfuhr, dass man ihm bereits den Magen auspumpte, war ich in den letzten Nachtbus eingestiegen und hingefahren. Die Therapeutin wollte wissen, warum ich Mutter nicht sofort benachrichtigt hatte. Ich sagte, ich hätte sie schonen wollen. Sie hatte bereits ihren Vater und ihren Bruder durch eine Gewalttat verloren, wie schwer hätte sie da der Tod ihres Sohnes getroffen.
    Ich war wütend auf Kaitsu gewesen und gleichzeitig traurig über sein Schicksal. Ihm Moralpredigten zu halten war leicht, wenn man selbst laufen konnte. Hätte ich in seiner Situation anders gehandelt? Meinen Onkel Rane hatte ich früher verstanden und sogar bewundert. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher.
    Ich hatte seinen letzten Brief immer wieder gelesen. Er enthielt keinen Hinweis auf Selbstmord, nur Klagen über die Routine des Gefängnisalltags und die endlosen Jahre, die vor ihm lagen.
    Vielleicht hatte er seine Tat nicht geplant, sondern sich in einem plötzlichen Anfall von Verzweiflung erhängt.
    Mein Handy piepte. Pekka hatte mir eine SMS geschickt:
    »Hallo, meine süße Altstimme, wie ist die Prüfung gelaufen?«
    Ich blieb an der Straßenecke stehen und tippte meine Antwort:
    »Ganz gut, aber jetzt hab ich Durst. Und du?« Allzu viele Schritte hatte ich noch nicht gemacht, als seine nächste Nachricht kam: »Auch durstig, komme gerade vom Training. Hol mich ab, dann gehen wir ins Pik 5.«
    Die Sonne stand noch immer hoch, das Meer schimmerte blau und golden. Die Tage wurden bereits deutlich länger. Ich hatte meine neue Umgebung im Lauf des Winters lieb gewonnen, sogar das Gefängnis. Es wollte mir irgendetwas sagen, nur wusste ich nicht, was.
    Ich brachte meine Noten nach Hause und ging weiter zu Pekkas Wohnung. Er kam gerade aus der Dusche, denn nach dem Training joggte er immer vom Fitness-Center nach Hause.
    Seine Haare glänzten feucht, sein Bizeps und seine Schultern wirkten kräftig. Ich gab mir Mühe, meine Verwirrung nicht zu zeigen. Es war schließlich nichts dabei, jemanden aus meiner Band mit nacktem Oberkörper zu sehen.
    »Willst du mir nicht von deiner Prüfung erzählen?«, rief Pekka aus dem Schlafzimmer, wo er sich fertig anzog.

    »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Am Anfang war ich furchtbar nervös und hab gepatzt, dann wurde ich ruhiger, und es ging etwas besser. Vier minus, also gerade noch befriedigend.«
    »Ich hab bei der Klavierprüfung immer dreieinhalb gekriegt«, lachte Pekka. »Wie in der Schule, da war ich auf drei minus abonniert.«
    »Das ist doch befriedigend«, grinste ich, obwohl ich wusste, dass ich das Wort besser vermieden hätte.
    »Ich bin also ein befriedigender Mann?«
    Ich gab ihm keine Antwort, sondern wandte mich ab und knöpfte den Mantel zu, damit Pekka nicht sah, dass ich rot geworden war. Ich würde es nicht ertragen, wenn er mir sagte, er wolle nur mein Kumpel sein. Ich wollte mehr.
    Wir gingen in die Kneipe gegenüber und setzten uns mit unserem Bier an einen Tisch in der hintersten Ecke, wo man nicht damit rechnen musste, von Betrunkenen angerempelt zu werden.
    »Gibt es Neuigkeiten von Kaitsu?«, fragte Pekka wie jedes Mal, wenn wir uns sahen. In der vergangenen Woche hatte er Kaitsu sogar besucht, ohne mir vorher etwas davon zu sagen.
    »Es ist nicht mehr hoffnungslos. Wahrscheinlich war es das nie, aber Kaitsu ist immer so verbohrt. Es kann ein oder zwei Jahre dauern, dann wird er wahrscheinlich wieder laufen können. Nur will er absolut nichts dafür tun. Irgendwie verstehe ich ihn sogar, er hat sich sein Schicksal schließlich nicht ausgesucht. Wahrscheinlich ist es auch sinnlos,

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