Lehtolainen, Leena
erlo-schen, die roten Augen der Sendemasten, die blassen Sterne.
Wir liebten uns zaghaft und vorsichtig. Am nächsten Morgen ging es schon besser, obwohl das Tageslicht jedes überflüssige Polster an meinem Körper enthüllte. Aber wenn man mit einem anderen Menschen zusammen sein wollte, musste man es wagen, auch seine Schwachstellen zu zeigen.
Ich hatte immer geglaubt, nur unglückliche Menschen seien interessant, hatte mich zur tragischen Heldin stilisiert, abends geweint, um Karris Aufmerksamkeit zu gewinnen, und auf Partys finster dreingeschaut, um nicht oberflächlich zu erscheinen. Seit langem suchte ich nach dem eigentlichen Grund für mein Unglück und glaubte, in dem Moment frei zu sein, in dem ich ihn fand. Aber vielleicht lag die Ursache meines Unglücks genau darin, dass es so einen Grund gar nicht gab, dachte ich, während Pekka meine Haare streichelte, als wolle er nie wieder etwas anderes tun.
Einige Tage später rief ich Kirsikka Kalmanlehto an. Ich wollte das Thema Rane abhaken, bevor ich sie privat kennenlernte.
Kirsikka, die mittlerweile als Oberinspektorin in der Abteilung für Gefangenenwesen des Innenministeriums arbeitete, schlug zu meiner Überraschung vor, noch am selben Nachmittag gemeinsam Kaffee zu trinken. Was in aller Welt mochte so wichtig sein, dass sie mich persönlich treffen wollte?
Meine alten Ängste regten sich wieder: Rane war doch nicht Großvaters Mörder, und Kirsikka Kalmanlehto kannte den wahren Täter. Pekka war zu Tonaufnahmen in Turku und hatte das Handy abgestellt, sodass ich mein Entsetzen mit niemandem teilen konnte. Auch meine Therapeutin war erst am nächsten Tag zu erreichen.
Da ich nichts anderes zu tun hatte, las ich Ranes Briefe noch einmal durch. Ich dachte an Pielavesi, an das weiche Gras vor dem Haus meiner Großeltern, an den verwaisten Kuhstall und an die Stille, vor der ich als Kind Angst gehabt hatte, weil Opas Gebrüll sie jederzeit zerreißen konnte. Was hatte Rane an jenem Abend gehört, als sein Vater starb?
»Frühstück, Arbeit, Mittagessen, Hofgang, Arbeit, Abendessen, Fernsehen. All das wiederholt sich unaufhörlich, von Jahr zu Jahr, während andere in meinem Alter Bier trinken, den Mädchen nachstellen, ein neues Auto kaufen. Dabei begreifen sie nicht einmal, wie glücklich sie sind, sondern träumen von mehr.«
Als ich Ranes Bild betrachtete, sah ich in seinem Gesicht wieder Kaitsus Züge. Ich versteckte die Briefe und das Bild unter dem Bett und machte mich auf den Weg zu Kirsikka Kalmanlehto. Die Straßenbahn kam viel zu schnell voran. Hatte ich jemals einen Krimi gelesen, in dem der Privatdetektiv die Wahrheit nicht herausfinden will?
Im Café herrschte fröhliches Stimmengewirr, das die stamp-fende Musik nicht zu übertönen vermochte. Eine etwa fünfzigjährige, dunkelhaarige Frau an einem Fenstertisch winkte mir zu. Ich hatte keine Ahnung, woran sie mich erkannte. Sie war ziemlich klein und zierlich und trug einen kirschroten Lippenstift. Ihre Stimme war dunkel und ruhig, ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie jemals laut wurde.
»Ich freue mich, Pekkas Freundin kennenzulernen«, sagte Kirsikka. Ich zuckte zusammen. Pekka und ich hatten drei Abende und drei Nächte miteinander verbracht, und ich war eigentlich noch nicht so weit, unser Verhältnis genauer zu definieren. Ich bestellte einen Café au Lait und überließ es Kirsikka, das Gespräch in Gang zu bringen.
»Pekka bewundert dich offenbar schon seit langem, er sagt, er erinnert sich gut an eure gemeinsame Kindheit. Eure Familie muss ihm und seinen Eltern viel bedeutet haben. Wir haben auch eine Menge Fotos von euch.«
»Wirklich?«
»Du wirst es sehen, wenn du uns mal in Tapiola besuchst.
Kommt doch am nächsten Samstag zum Essen.«
Ich sagte unverbindlich zu. Kirsikka erzählte mir von einer Studie, an der sie gerade arbeitete. Es ging darin um die Selbst-morde in finnischen Haftanstalten in den Jahren 1975 bis 2000.
»Dein Onkel Rane ist natürlich einer dieser Fälle. Erinnerst du dich noch an ihn?«
»Ich kann nicht mehr auseinanderhalten, was meine eigenen Erinnerungen sind, was andere mir erzählt haben und was reine Erfindung ist.«
Sie lächelte, doch es war ein freundschaftliches Lächeln, nicht die professionelle Reaktion einer Therapeutin.
»Ich selbst bin ihm nur ein einziges Mal begegnet. Damals war ich frischgebackene Psychologin und bildete mir ein, im Gefängnis könnte ich Kriminelle heilen und so die Welt verbessern. Rane hatte sich ein
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