Lehtolainen, Leena
Weile zurückfahren und sie aufsammeln können, nachdem sie sich beruhigt hat. Warum musste Kaitsu …«
Ich hielt meinem Bruder das Handy hin und schloss die Augen. Noch vier Stunden bis nach Hause. Schokolade, Alkohol und die Briefe in der Schachtel. Sara hätte ihrerseits Kaitsu an den Kopf knallen können, dass er außer einem versoffenen Großvater und einem mörderischen Onkel obendrein noch einen Vater hatte, der ein mieser Säufer und Hurenbock war, vollkommen unfähig, auch nur für seine Gitarre die Verantwortung zu tragen, von Frau und Kindern ganz zu schweigen. Dann hätte an Saras Stelle Kaitsu einen der berüchtigten Liimatainen-Wutanfälle gekriegt, die so oft mit Scherben und zerdellten Kochtöpfen endeten.
So war es vermutlich auch bei Rane gewesen. Er hatte im Suff einen Wutanfall gehabt, der seine Hand zum Hammer greifen ließ und den Hammer an Großvaters Schläfe führte, noch bevor sein Gehirn ganz begriff, was geschah. In den Zeitungen hatte gestanden, er habe nur einmal zugeschlagen. Großvater hatte sturzbetrunken auf dem Fußboden gelegen, als es passierte. Wie hatte er es in dem Zustand überhaupt fertiggebracht, seinen Sohn derart in Rage zu versetzen?
Großmutter war es bestimmt leid gewesen, dass ihr Mann jeden Pfennig vertrank, den sie nach Hause brachte. Mutter hatte sich schon mit sechzehn vor ihrem trunksüchtigen Vater nach Kuopio geflüchtet, wo sie auf die Handelsschule ging. Mit achtzehn hatte sie dort beim Tanzen einen Musiker aus Helsinki kennengelernt und war schwanger geworden. Sie war mit ihm ins Hauptstadtgebiet gezogen, zuerst nach Malmi, dann nach Matinkylä, nur um festzustellen, dass dieser Eero Tiainen genau so ein Säufer war wie Großvater. Als sie dreiundzwanzig war, hatte unser Vater sie verlassen.
Wir hielten am Hotel Juva, um Kaffee zu trinken. Kaitsu kaufte Zeitungen, damit er dabei nicht zu reden brauchte. Im Auto blieb ihm das ohnehin erspart, dafür sorgte die Musik. Auf dem Rest der Strecke ging er nur vom Gas, wenn er eine Radarkamera sah, ansonsten brauste er mit hundertfünfzig Sachen über die Autobahn, wechselte ständig die Spur, hupte und blinkte, wenn vor ihm ein Idiot mit hundertdreißig auf der Überholspur zockelte. Wir kamen eine Dreiviertelstunde früher an, als ich gedacht hatte. Ich gab Kaitsu Benzingeld und ging die Treppe zu meiner Wohnung hinauf.
Da ich erst vor einigen Wochen in die Orionkatu gezogen war, erschien mir die Umgebung noch neu und spannend. Das Meer, das ich vom Fenster aus sah, wechselte ständig sein Aussehen, jenseits der Bucht ragten die Hochhäuser von Osthelsinki auf.
Noch verbarg das Laub der Bäume die Gefängnismauern, doch im Winter würden auch sie zu sehen sein. Ich hatte die Wohnung nur wegen der Aussicht gemietet, die enge Kochnische und die abblätternde gelbe Wandfarbe störten mich nicht.
Die Schnapsflasche stand auf dem Esstisch. Ich nahm einen langen Zug, dann war die Schokolade an der Reihe, ein ganzer Riegel auf einmal. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und schaute hinaus. Es war windstill, das Meer sah aus wie ein lose gespanntes graues Tuch. Der Alkohol und der Zucker gingen mir ins Blut und wärmten Magen, Mund und Herz. Nach einer Weile fühlte ich mich stark genug, die Schachtel zu öffnen.
Mehrere Schichten Klebeband verschlossen den Deckel mit der verblichenen blauen Aufschrift. Zuerst versuchte ich, es mit den Fingern abzureißen, aber schließlich musste ich doch eine Schere zu Hilfe nehmen. Ich schlitzte es vorsichtig auf, um den Inhalt der Schachtel nicht zu beschädigen. Mein Herz klopfte wie verrückt, ich brauchte unbedingt einen Beruhigungsschluck.
Ich goss Schnaps in ein hohes Glas und füllte es mit Diätcola auf. Dann nahm ich die Briefe heraus.
Frau Aino Liimatainen, 72530 Säviäntaipale, stand auf dem obersten Umschlag. Es waren acht Briefe, darunter lagen zwei blaue Hefte, dann kamen wieder Briefe. Auf den obersten stand kein Absender, aber auf den etwa zehn Briefen, die unter den Heften lagen, war er angegeben: Rane Liimatainen, zuerst Rekrut, dann Soldat. Mein Onkel Rane hatte es nicht mal zum Gefreiten gebracht, denn er hatte sich nicht anpassen können und war vorzeitig aus dem Wehrdienst entlassen worden. Auch deshalb war er mir immer sympathisch gewesen.
Die Briefe aus der Kaserne interessierten mich weniger. Ich nahm den anderen Stapel zur Hand. Er war mit brauner Papier-schnur zusammengebunden, die so fest verknotet war, als sollte sie nie mehr gelöst werden.
Weitere Kostenlose Bücher