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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Lächeln, später wirst du mich darauf hinweisen: Hast du es gesehen? Sein mokantesLächeln? Du hattest natürlich gehört, was ich zu Urban gesagt hatte: Heute warst du aber gut, worauf er, mit diesem »mokanten« Lächeln, erwidert hatte: Man tut, was man kann. Und du, als wir über die Saalebrücke gingen, im Dunkeln: Er spielt doch Beteiligtsein. Er macht sich doch lustig, merkst du das nicht: über den Text, die Langhans, uns alle, dich. Ich merkte es nicht. Ich wollte es nicht merken. Nicht nur mokant, sagtest du. Diabolisch. Da war das Wort ausgesprochen, ich widersetzte mich ihm, um so stärker hakte es sich in mir fest. Wir haben Jahre gebraucht, ehe das Wort zwischen uns wieder aufkommen konnte, und ich meinerseits habe Jahre gebraucht, ehe ich dir anvertrauen konnte, was mir an Einsicht über Urbans Grundmangel und Grundkummer zuteil geworden war, als er bravourös den Text interpretierte, mit dem wir anderen kaum zurechtkamen: »Schwere Stunde« von Thomas Mann hatte Frau Langhans für ihr Sprecherziehungsseminar gewählt, ein schwieriger Text, sie gab es zu, ein Autor beschreibt die Krise eines anderen, eine Camouflage, hinter der er seine eigene Krise halb versteckt, halb offenbart. Schwer zu lesen. Doppelbödig. Urban vollbrachte das Kunststück. Ich behielt die Gewächshäuser des Botanischen Gartens im Auge, in dem Friedrich Schiller herumspaziert sein mochte, während er am »Wallenstein« schrieb, und auf den nun die Fenster unseres kleinen Hörsaals hinausgingen,um niemanden merken zu lassen, daß mir die Tränen kamen, nicht nur aus Mitgefühl mit den geistigen und körperlichen Qualen des Friedrich Schiller, sondern auch, und hauptsächlich, wegen des leisen Zitterns in Urbans Stimme. Urban, mein lieber Freund und Kupferstecher. Ich hatte damals das scharfe Gehör für alle seine Äußerungen, hab mich nicht irreführen lassen durch das Tremolo in seiner Stimme, wenn er Wörter wie »gottverlassen«, »Irrsal« und »heiliger Gram der Seele« lesen mußte oder den Satz: »Der Schmerz... Wie das Wort ihm die Brust weitete!« Nein. Diesen Satz hat er noch mit einer gespielten Mitgenommenheit lesen können, die jeden täuschen mochte, nur dich nicht. Und mich auch nicht, die ich andere Gründe hatte als du, ihm auf den Mund zu schauen. Er hat mich nicht täuschen können, nicht über seine Falschheit, dann aber auch über seine Echtheit nicht, als er an den Satz kam, der ihn zu überraschen, mehr noch: zu überrumpeln schien: »Das Talent selbst – war es nicht Schmerz?« Die winzige verräterische Pause nach diesem Satz, der eine tiefe Atemzug – die waren kein Kunstgriff. Die hattest du, durch dein Vorurteil gehindert, nicht bemerkt oder nicht richtig deuten können. Ich aber bemerkte sie und verstand sie auch, weil die Frage mein Inneres traf wie das von Urban, und weil ich, widerstrebend und ohne Selbstvertrauen, ganz leise eine andere Antwort zu vernehmen begann als er. Er nämlich, das hatte ichbegriffen, war der vernichtenden Wahrheit innegeworden, daß er kein Talent hatte, was er mehr als alles andere ersehnte, und daß keine Macht der Welt, auch seine eigene brennende Begierde nicht, imstande war, diesem Mangel abzuhelfen. Er tat mir leid, fast verspürte ich eine Art Schuldgefühl, darum schlug ich die Augen nieder vor seinem mokanten Lächeln, hinter dem er sich, wie immer, verbarg, als wir uns vor der Universität verabschiedeten, und darum, Lieber, war ich ergriffen. Erst später habe ich gelernt, mich zu fürchten vor der Rachsucht der ehrgeizigen Talentlosen – und dann gründlich.
    Nicht mehr atmen. Endlich erlischt die grünflimmernde Grafik auf dem Bildschirm. Keine Sekunde länger hätte ich es ertragen. Eine männliche Mikrophonstimme redet mich sachlich mit meinem Namen an. Wir würden jetzt eine Pause machen. Die Hälfte hätten wir schon hinter uns. Nun gehe es nur noch um Detailaufnahmen einer bestimmten Partie in meinem Bauchraum, die man sich genauer ansehen wolle. Ob ich noch könne. Ungläubig höre ich mich ja sagen und verachte mich sofort dafür. Daß ich niemals nein sagen kann auf solche Fragen. Allein die Vorstellung, die ausgerenkten Arme noch weitere zehn, zwanzig, dreißig Minuten hoch über den Kopf gestreckt zu halten. Oder dieses Ausgesetztsein in einem Strahlenkäfig, von dem jeder andere sich fernhalten muß. Ich höre die Tür gehen.Schritte. Eine männliche Stimme, der Radiologe. Er werde mir etwas unter die Hände geben, damit ich sie auflegen

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