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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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einem fünfjährigen Kind, und doch kann ich nichts dagegen tun, daß Helenchen hustet und hustet, daß sie gewiß eine Bronchitis bekommt, die so leicht chronisch werden kann, mit allen bösen Folgen, und während die bösen Folgen sich in mir ausbreiten, stürzt zugleich wieder und wieder diese Verkehrsmaschine vom Himmel, mit ihrer noch lebenden, jetzt aber, um Sekundenbruchteile später, zerschmetterten, zerdrückten, verbrannten, zerrissenen menschlichen Fracht, und ich kann nur hoffen, daß niemand, den ich liebe oder auch nur kenne, in nächster Zeit gezwungen oder leichtfertig genug ist, mit einer Verkehrsmaschine zu fliegen, und falls er es doch tun sollte, so will ich es nicht wissen, so wie ich amliebsten nicht wüßte, wann du morgen bei mir sein willst, weil ich mir dann ausrechnen muß, wann du losfährst und eine Stunde lang auf den zwar nicht überlasteten, doch gewiß nicht ganz ungefährlichen Straßen im Auto unterwegs bist. So wie ich, das weiß ich nun auch, jetzt nicht erfahren wollte, wenn ich Krebs hätte. Ich will mir merken, daß man einem Menschen, der gerade operiert und noch sehr schwach ist, nicht sagen darf, daß er Krebs hat – ganz gleich, was er vorher behauptet haben mag. Es gibt also Zustände, in denen Ehrlichkeit, Wahrheit tödlich wirken.
    Ich will das bei Gelegenheit dem Chefarzt sagen, der gerade wieder hereinkommt, um ihr mitzuteilen, sie seien sich darüber einig geworden, sie noch einmal zu operieren. Vorher aber werde man sie, heute noch, genaugenommen: sofort, einer weiteren Untersuchung unterziehen. Um den Herd, den es zu entfernen gilt, ganz sicher einzugrenzen. Es gebe da neuerdings eine schonende und äußerst aussagekräftige Methode, sagt der Chefarzt, während er die ganze Zeit prüfend ihr Handgelenk hält und sie sich zum erstenmal fragt, wie alt er sein mag. Das muß doch ein gutes Zeichen sein, daß es mich, wenn auch nicht gerade brennend, zu interessieren beginnt, wie alt der Arzt sein mag, der in der Kommission, die anscheinend zusammengekommen ist, um über meinen Fall zu beraten, sicherlich das entscheidende Wort zu sagen hatte. In allen Kommissionen,in denen ich selber gesessen habe, hatte immer einer das entscheidende Wort, selten, sehr selten eine, und mir fällt ein, ich hatte kaum je das entscheidende Wort, glücklicherweise nicht. Urban aber, mein Freund und Genosse Urban, der hatte in mindestens drei Kommissionen, denen auch ich angehörte, das entscheidende Wort. In der ersten hat er es ungeschickt und unsicher gebraucht, da war er durch Argumente beeinflußbar, und ich war zufrieden mit ihm, in der zweiten schlich sich Routine in seine Diskussionsleitung ein, und in der dritten machte es ihm nichts mehr aus, die Entscheidungsmacht zu gebrauchen, er fing an, Widerspruch abzuwürgen, und ich fing an, die Sitzungen zu meiden. Kein Grund, sich zu rühmen. Wie lange ist das alles her. Wie tief versunken.
    Darüber ist der Chefarzt gegangen, und Jürgen, der Pfleger, ist mit einer Kanne hereingekommen, in der ein Liter Flüssigkeit Platz hat und die sie, um sich auf den Computertomographen vorzubereiten, in der nächsten Viertelstunde austrinken soll. – Aber das kann ich nicht. Sie wissen doch, fünf Schluck Tee waren das Äußerste. – Sie müssen, sagt Jürgen unüberzeugt. Es ist eine Kontrastflüssigkeit. – Ihr bricht der Schweiß aus. Nach den ersten Schlucken ist sie klitschnaß, aber da sie inzwischen die mißliche Wäschelage auf der Station kennt, wird sie sich hüten, schon wieder um ein frisches Hemd zu bitten, sie wird sich darauf konzentrieren,diese ekelhaft schmeckende Flüssigkeit herunterzuschlucken. Was sie hier von mir verlangen, ist unmöglich, der Pfleger Jürgen weiß es auch, er hält ihr die Schnabeltasse an die Lippen, noch einen Schluck, noch einen Schluck, brav, brav. Rückfall in die Kindheit, auch damals war ich frei von Verpflichtungen, wie jetzt, wo niemand etwas von mir verlangt, außer daß ich mich kooperativ verhalte, so hat die Stationsschwester es ausgedrückt: Aber Sie sind ja kooperativ, nicht wahr, und ich, peinlicherweise, fühlte wirklich einen Anhauch von Verpflichtung, ihrer Erwartung zu entsprechen, doch diese Kanne kann ich nicht austrinken, die letzte Tasse weist sie zurück, Jürgen schüttet ihren Inhalt wortlos in den Ausguß. Leider hat er keine Zeit, sie hinunter zu begleiten, in den Keller, in die Unterwelt, sagt er, er ist nicht ungebildet, er denkt daran, nach seiner Prüfung noch ein, zwei

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