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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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antwortet sich brav selbst: Weil die Spritze die zweite Wahl sein mag.
    Nun warten sie auf die Wirkung. Nun läßt sie ihre Gedanken eilig und dringlich umherschweifen, auf der Suche nach einem Gegenstand, an dem sie sich festhalten können, wenn man mich, wie ein Brot in den Backofen, in jene enge Röhre schiebenwird, vor deren Schlund ich liege. Leider fällt mir nichts Tröstendes ein, leider ereilt ein Gedanke, dem ich bis jetzt ausgewichen bin, mich ausgerechnet hier, nun werde ich ihn nicht mehr abschütteln können: den Gedanken, daß Urban verschwunden ist. Jetzt, ausgerechnet jetzt, gelingt es mir nicht mehr, die Nachricht zu verdrängen, die mir vor kurzem durchs Telefon übermittelt wurde, von Renate, seiner Frau, die mir einmal nahe war, aber, da wir mit Urban den Kontakt gemieden hatten, auch fremd geworden ist. Ihre Stimme erkannte ich gleich, verstand aber nicht, was sie, in fliegender Angst, sagte: Hannes ist verschwunden. Hannes? hätte ich fast gefragt, gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, daß unser früherer Freund, den alle, selbst Renate, immer nur »Urban« genannt hatten, mit Vornamen Hannes hieß. An dem Maß meines Schreckens erkannte ich, daß etwas Schlimmes geschehen war. – Verschwunden, was heißt das: verschwunden. – Wie ich es sage: Er ist einfach nicht mehr nach Hause gekommen. – Von wo? – Aus dem Institut. – Wann? – Vor einer Woche. – Man sucht ihn? – Das kannst du annehmen. Mit allen Mitteln. – In mir begannen alle Alarmglocken zu läuten. – Sie habe mir nur Bescheid sagen wollen, damit ich es nicht aus der Zeitung erfahre. Als ob derartiges in der Zeitung stünde. Renate legte den Hörer auf, ehe sie zu weinen begann. Ich spürte die alte Zuneigung zu ihr wieder erwachen, und gegenUrban etwas wie Zorn: ihr das anzutun. Und ein merkwürdiges Gefühl von Verantwortung, als müßte ich ihm nachgehen. Nun geht er mir nach, bis hierher.
    Nicht nur, daß man bloß mit dem Kopf aus der engen Röhre herausguckt. Man könnte auch nicht weg, auch in größter Angst nicht, auch nicht in Todesangst, von der aber immer noch nicht die Rede sein kann, nur eine Ahnung, daß keine Klaustrophobie nötig wäre, um in dieser Röhre Angst zu bekommen. Doch läßt sie sich fernhalten, wenn ich mich auf die Kommandos konzentriere, die eine unpersönliche weibliche Stimme von jenseits der dicken Glasscheibe über Mikrophon zu mir hereinspricht: Einatmen – Luft anhalten – ausatmen. Eine Stimme, die keine Ahnung hat, wie schwer es sein kann, ihre einfachen Befehle zu befolgen, wieder und wieder, nun schon zehn Minuten lang, denn die runde Uhr über der Tür zu dem dunklen Raum hinter der Glasscheibe habe ich im Blick, wenn ich den Kopf ein wenig nach links neige, während ich ihn etwas stärker nach rechts drehen muß, um das Wechselspiel grünlicher Linien und Daten auf dem Bildschirm des kleinen Computers zu verfolgen, das, zusammengesetzt und in richtiger Weise gedeutet, meinem Arzt, der es hoffentlich zu lesen versteht, wichtige Auskünfte über das Geschehen in meinem Bauchraum geben wird. Die Übelkeit, die mich immer noch würgen läßt, spürt der Computernicht auf, aber, wenn wir Glück haben, meinte vorhin der Radiologe, werde er die Umrisse jenes Abszesses nachzeichnen, der für mein Fieber verantwortlich sei. Glück hat er gesagt, und ich bin ernst geblieben. Ich werde ihm nicht sagen – kaum wage ich es zu denken –, daß ich fast alles auf mich nehmen würde, wenn ich dafür aus dieser Röhre herauskäme. Wohin denn mit meinen hoch über dem Kopf ausgestreckten Armen, wo die Hände ablegen, die einzuschlafen beginnen. Einatmen, Luft anhalten, ausatmen. Ich versuche, mich dem Rhythmus anzupassen, versuche, ein paar Atemzüge nach eigenem Rhythmus einzuschmuggeln, versuche, verstohlen zu husten, wobei die unpersönliche, leicht verzerrte technische Stimme mich nicht ertappen soll. Einatmen – länger als noch mal fünfzehn Minuten kann es ja nicht dauern, wahrscheinlich nicht einmal so lange, es wäre ja eine undenkbare, eigentlich frevelhafte Zumutung. – Bitte konzentrieren Sie sich. – Es entgeht ihnen nichts.
    Ruhe. Ruhe Ruhe Ruhe. Jetzt nehme ich mich aber zusammen. Jetzt atme ich ganz mechanisch, wie die Stimme es will, und lasse dabei die Bilder kommen, die von selbst aufsteigen. Wir drei, du, Urban und ich, kommen aus dem Hörsaal von Frau Doktor Langhans. Jetzt sehe ich uns, wie jung wir sind, einem Foto aus jenen Tagen nachgebildet, ich sehe auch Urbans

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