Leibhaftig
spricht die Anführungszeichen mit. Das sei wohl doch nicht das Wahre. Kann ein Chefarzt und leitender Chirurg verlegen sein?
Sie hat das kleine blaue Buch in der Hand. Es ist leicht, sie kann es mit der Rechten halten und mit der Linken, dem Arm, der an den Schläuchen hängt, vorsichtig darin blättern. »Hier winden sich Kronen in ewiger Stille / Die sollen mit Fülle / Die Tätigen lohnen.«
Siehst du, das habe ich gesucht. – Du sagst, wir hätten einen wechselhaften Sommer. In meinem Gehirn schnurrt eine Wortreihe ab, wechselhaft sprunghaft flegelhaft bubenhaft flatterhaft floskelhaft schmerzhaft. Leibhaft. Du fragst, was du selten fragst, weil diese Frage mir vorbehalten ist, es muß etwas passiert sein, daß jetzt du sie stellst: Was denkst du. Und nun, das ist eigentlich traurig, weiß ich beim besten Willen keine Antwort.
Ich habe, das weißt du, immer guten Willen, häufigden allerbesten Willen gehabt und auch gezeigt, schließlich nur noch gezeigt, denn, ich kann es nicht leugnen, allmählich ist mein guter Wille, zu häufig benutzt, schadhaft geworden, aufgebraucht und abhanden gekommen. Nun kann ich, frei von gutem oder schlechtem Willen, frei von jedem Anflug von Willen, dich ansehen und mit den Augen verneinen. Du mögest ablassen von deiner Frage. Sie ist zu spät gestellt. Oder zu früh. Vor kurzem noch hätte ich mir Mühe gegeben zu antworten, um dich nicht zu verletzen, jetzt bin ich, durch Kraftlosigkeit, jeder Mühe enthoben. Nicht einmal staunen kann ich, daß ich hierher geraten mußte, auf den Boden dieses Schachtes, damit mir Sorgen und Mühen vergehn. Eine Ahnung will mir aufdämmern, als sei diese ganze aufwendige Veranstaltung aus keinem anderen Grund inszeniert. Die Ahnung verblaßt. Bleicht aus. Bleiches Gefilde. Gespensterhaft. Eulenhaft. Traumhaft. Geh, sag ich zu dir. Bitte geh. Schemenhaft. Schauderhaft. Scheusalhaft.
Wieder die Flut, ein reißender Fluß, grauenhaft, fieberhaft, zwanghaft, es gibt kein Halten. Hoch, sagt eine weibliche Stimme, sehr hohe Temperatur, ohnmächtig treibe ich in dem wilden Wasser, da steigen zwei Wörter auf, berühren einen winzigen Fleck in meinem Bewußtsein, widerstehen der reißenden Strömung, setzen sich fest, jetzt kann ich staunend denken: Ich leide. Ich bewege die Lippen, versuche die Erkenntnis auszusprechen: Ich leide.
Ja, sagt die Stimme des Chefarztes nüchtern. Ich weiß.
Das ist ein wichtiger Augenblick. Ich leide, ein anderer weiß es. Kein Gehabe von mir, kein Getue von ihm. Nur was der Fall ist.
Wadenwickel, Schwester Christine, seien Sie so gut, versuchen Sie es damit. Im Notfall die Spritze.
Und erst spätabends, in der Nacht – aber die Tages- und Nachtzeiten sind in Auflösung begriffen –, wird die Flut sinken, schattenhaft wird der Raum auftauchen, kaum beleuchtet von dem viereckigen Nachtlicht an der Fußleiste neben der Tür, sie wird, klitschnaß und entkräftet, in ihrem Bett-Boot liegen, das schwankt, aber standhält, der Galgen mit den beiden durchsichtigen Flaschen über ihr, das bleiche Fensterviereck, halb vom Vorhang abgedeckt, und rechterhand auf dem Nachttisch der kleine schwarze Block, das Radio, nach dem sie greifen, das sie zaghaft anstellen wird, gewärtig, daß wieder ein Flugzeug aus allen Himmeln gestürzt oder ein atomgetriebenes U-Boot vor einer nördlichen Küste auf Grund gelaufen ist, daß eine Geisel in einem entfernten Teil der Welt tot aufgefunden oder ein Mensch in einem nahen Teil der Welt auf der Flucht erschossen wurde, daß also der Lauf der Welt, den jeder Mensch außer ihr anscheinend aushält, normal weitergegangen ist. Gefaßt auf all dies, bereit, den kleinen Aus-Knopf sofort wieder herunterzudrücken, kommt, glückhaft, einreiner zarter Geigenton, dem ein ebensolcher, um eine Quinte höher, folgt, dann wieder einer und wieder einer, ein Baß nimmt den ersten Ton auf, dunkel und klangvoll tritt eine Klarinette, ihr Lieblingsinstrument, hinzu, nun haben sie den Tönen ein spinnwebfeines Netz geknüpft, jetzt legen sie ihnen zauberhafte Wege, sogar eine Trompete findet sich in diesem Zauberland zurecht, ganz hoch versteigt sie sich und hebt mein Herz mit an, fehlt nur noch das Klavier, das hat sich zurückgehalten, bis zum äußersten, jetzt ist es da, begleitet und vereint das wundersame Gemisch der Töne. He, Leute, was ist Menschenglück.
Auch ihr Gesicht ist naß, behutsam tupft eine Hand es ab, behutsam wird ihr Hemd gewechselt, das Laken, die Bettwäsche. Die stille namenlose
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