Leibhaftig
Nachtschwester hat Hilfe bekommen, eine dunkle junge Frau geht ihr zur Hand, sie ist schön, ihre Schönheit liegt in ihren leichten, fast scheuen Bewegungen, mädchenhaft, lebhaft, gewissenhaft, mehreres, was sonst kaum zusammengeht, hat sie in sich zu vereinen gewußt. Vor allem hat sie tiefbraune Augen, wie ich sie noch nie gesehen habe, das sage ich ihr. Sie lächelt, unverlegen. Sie sitzt auf dem Bettrand, legt mir die Hand auf die Stirn, mütterlich, aber sie ist doch um so vieles jünger, sie könnte meine Tochter sein. Sie sei ihre Anästhesistin, sagt sie. Sie werde ihr morgen früh zu einem guten Schlaf verhelfen. Sie werde da sein, wenn sieaufwache. Sie solle versuchen, in guter Verfassung in die Narkose zu gehen, denn wie man hineingegangen sei, komme man auch wieder heraus. Sie werde sie aufmerksam begleiten, sie könne sich darauf verlassen. Nein, Frau Doktor solle sie sie nicht nennen, den Titel habe sie nicht. Sie heiße Bachmann, Kora Bachmann. Beziehungsreicher Name. Das versteht sie nicht. Einige Auskünfte brauche sie noch, ich gebe sie ihr, so gut ich kann, das meiste stehe ja, sagt sie, sowieso in meiner Akte, nur vergewissere sie sich lieber selbst, ob jemand zum Beispiel nicht allergisch gegen das Narkosemittel sei. Sie müsse sich der Verträglichkeit des Mittels für diesen Patienten vergewissern, aber, sagt Kora, wer wolle denn ein Gift, das ja jedes Narkosemittel nun mal sei, verträglich nennen? Merkwürdig. Selbst solche heiklen Themen kann sie aufbringen, ohne daß meine Angstabwehr sich einschaltet, denn wie könnte ein Mittel, das Kora mir spritzen wird, ganz und gar unverträglich für mich sein.
Sie wird mich also führen, ins Dunkle, in den Hades, ein weiblicher Cicerone, sie wird auf mich achten, meinen Herzschlag bewachen, ich bin beruhigt. Wie lang diese Nächte sind, sagt sie noch, und Kora sagt, ja. Ihre Nächte seien auf andere Weise lang, wenn sie nämlich Nachtdienst habe, wie heute. Und dann morgen früh gleich in den OP !, sagt die Patientin bedauernd, ach, sagt Kora,man bleibe in der Übung, und ein paar Stunden Schlaf kriege sie heute nacht allemal.
Während ich mir Koras Nacht vorstelle, mich eifersüchtig frage, ob sie auch zu den anderen Kandidaten, deren Anästhesistin sie morgen sein wird, so freundlich ist wie zu mir, ob sich die gleiche Nähe zwischen ihnen einstellt, schlafe ich ein. Den Satz: Verlaß mich nicht, dunkle Frau! muß ich schon im Traum vernommen, wohl selbst gesagt haben, freudig und traurig zugleich, und dann habe ich sie, Kora, dazu gebracht, noch in derselben Nacht mit mir durch die Stadt zu wandern, richtiger: zu schweben, denn wir bewegten uns mit großer Leichtigkeit immer einen Zentimeter über dem Boden. Der Befehl, der mir so oft gegeben worden war: Nun bleib aber mal auf dem Teppich!, der galt nicht mehr, ganz leicht schwebten wir aus dem breiten Fenster unseres Berliner Zimmers hinunter in den nachtdunklen Innenhof, auf den nur ein schmaler Lichtschein aus dem fünften Stock des linken Nebengebäudes fiel, aus der Küche von Frau Baluschek, die zu dieser nachtschlafenden Zeit eigentlich im Bett sein sollte, da sie im Auftrag der Kommunalen Wohnungsverwaltung für wenig Geld die Treppen im Vorderhaus reinigt und sich aus eigenem Antrieb abrackert, in unserem Hausgeviert für Ruhe und Ordnung zu sorgen, was ihr, bei diesem gemischten Publikum, so drückt sie sich aus, wahrhaftigen Gottes nicht immer leicht gemacht wird,besonders wenn sie an die neuen Mieter denkt, Vorderhaus dritter Stock rechts, für deren Benehmen es keine Worte gibt, oder nur ein Wort, ein einziges, das auszusprechen sich Frau Baluschek nicht scheut: a-so-zi-al. Diese Asozialen sind zu faul, ihren Dreck wenigstens in die Mülltonnen zu werfen wie jeder normale Mensch, die müssen ihn danebenschmeißen. Bald werde der ganze von ihr mühsam sauber gehaltene Hof mit Unrat übersät sein.
Die laufen doch alle nicht ganz rund, sagtest du, als das Hofgeschrei zwischen Frau Baluschek und den neuen Mietern über uns losging, und machtest alle Fenster zu, und ich dachte nicht daran, mich mit dieser Frau anzulegen, der ich mit Hilfe von Kaffee- und Zigarettenpäckchen aus dem Intershop im Erdgeschoß ihr gegen dich und mich schwelendes Mißtrauen allmählich genommen hatte. Aber saubere oder verdreckte Innenhöfe sind mein Problem nicht, nicht in dieser Nacht, wir schweben, die dunkle Frau und ich, im bleichen Licht des Mondes, der über dem Friedrichstadtpalast aufgeht, von
Weitere Kostenlose Bücher