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Leibhaftig

Leibhaftig

Titel: Leibhaftig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Konzentration geschaltet sei. Aber es stimme: Ein Garten wäre für ihn das Letzte. Schon weil der Chef sie alle nerve mit seinen Rosensorten. Sein Hobby? Da werde sie lachen: Er sammle Münzen. So werde man nebenbei zum Historiker.
    Und? Was sagt der Historiker zur Jetztzeit?
    Er sucht vergeblich nach einem Vergleich.
    So fatal?
    Noch fataler. Aber wir Menschen sind blind, und das ist unser Glück.
    Und Sie machen die Blinden gehend, sagt sie, und er: Sehr richtig, Madame. Was Nützlicheres ist mir nicht eingefallen. Sie aber, scheint mir, wollen die Blinden sehend machen. Kein Wunder, daß es Ihnen manchmal die Beine weghaut.
    Fällt diese Diagnose in Ihr Fach?
    Ins Fach allgemeine Menschenkunde, denke ich mir.
    Da lachen Sie sich ins Fäustchen über die unbelehrbar Naiven.
    Sie mißkennen mich. Warum soll sich unsereins nicht zurücksehnen nach der Zeit, da das Wünschen noch geholfen hat und Ihre Müllerstochter Stroh zu Gold spann?
    Nicht alle Märchen enden mit dem Glück der Beteiligten. Zu Ihrer Beruhigung: Ich bin geheilt.
    So. Das werden wir Ihnen zu gegebener Zeit schon mitteilen. Übrigens: Manche Krankheiten sind sehr hartnäckig. Doch ich ermüde Sie. Angenehme Nachtruhe.
    Während es langsam und spät dunkel wird, weil wir uns der Sommersonnenwende nähern, stellt sie sich den Oberarzt vor, wie er vor seiner Münzsammlung sitzt, einzelne Stücke mit der Lupe betrachtend, und eine entsetzliche Ödnis strahlt sie an. Es hat eben alles seinen Preis, denkt sie, der Preis für die Gemütsruhe des Unbeteiligten ist verzehrende Langeweile. Aber vielleicht war sie die Letzte, die darüber urteilen konnte.
    Dann gibt es in dem Himmelsausschnitt, den sie sehen kann, nach all den verregneten Wochen wieder einmal einen Sonnenuntergang. Ihr farbentwöhntes Auge kann das Schauspiel kaum fassen. Und das alles soll die reine Verschwendung sein,niemandem speziell zugedacht, von niemandem für niemanden inszeniert? Das glaubt Schwester Thea nie und nimmer, wer das glauben kann, muß sehr stumpfsinnig sein. Sie jedenfalls ist froh, daß sie weiß, wem sie danken kann für einen solchen Sonnenuntergang und für so vieles andere mehr.
    Schwester Thea hat die Anweisung, nun auch die Drains zu entfernen, endlich hat diese Wirtschaft ein Ende, der liebe Gott hat schon gewußt, wie viele Löcher der Mensch braucht, nicht? Die anderen kleben wir jetzt einfach zu. Die Schläuche schmeiß ich weg, mit Genuß. Jetzt dauert es nicht mehr lange, und Sie können sich ruhig mal auf die Seite drehn.
    Auch auf der Seite schlafen? – Warum denn nicht. – Unglaublich, Schwester Thea. Manche Sachen verlernt man hier einfach. Übrigens, wissen Sie, was ich vorhin in meinem kleinen Radio gehört habe? Wissenschaftler arbeiten an gentechnischen Entwicklungen, die Kühe dazu bringen sollen, menschliche Muttermilch zu spenden.
    Prost Mahlzeit, sagt Schwester Thea, die nicht ohne Humor ist. – Ob sie das eine Sünde nennen würde? – Ja, sagt sie, mit Überzeugung. Ja und nochmals ja.
    Auf die Liste der verlorenen und wiederzufindenden Wörter würde ich das Wort »Sünde« setzen, sagt sie zu Kora Bachmann, die kurz nachdenkt, dann Zweifel anmeldet. »Sünde« sei für sieeines der Wörter, das den Menschen fessele. Sie habe sich inzwischen ein wenig kundig gemacht in der griechischen Mythologie. Der Hades habe sie interessiert. Sie frage sich schon, wohin das Bewußtsein des Menschen eigentlich entschwinde, wenn sie ihn eingeschläfert habe.
    Aber doch hoffentlich nicht in den Hades, Kora.
    Weil er dann tot wäre. Aber es gibt doch diese Seelen, die sich auf der Grenze bewegen, nicht mehr lebend, noch nicht ganz tot. Und die dem Sänger Orpheus lauschen, als er seine Frau Eurydike von den Toten freisingen will. Diese Macht des Gesanges, verstehen Sie, was ich meine. Alles Wilde hält inne, wenn er singt. Sisyphos setzt sich auf seinen Stein. Der Höllenhund Kerberos hört auf zu bellen. Die Totenrichter brechen in Tränen aus. Die Kunst als Mittel, die wilden Triebe des Menschen zu zähmen, es gibt mir zu denken.
    Aber Eurydike muß ins Totenreich zurück.
    Weil Orpheus sich nicht beherrschen kann und sich nach ihr umblickt. Finden Sie es nicht weise, daß der Lebende nicht in die Augen der Toten blicken soll?
    Und warum soll er das nicht tun?
    Weil dieser Blick ihn zum Leben unfähig machen könnte.
    Sie meinen, das Totenreich könnte ihm verlockend erscheinen?
    Oder das Reich von uns Lebenden könnte ihnabstoßen. Ich habe Sie

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