Leibhaftig
drei Schlucke herunterbringt. Was denken Sie, sagt er, wie schnell so ein Magen einschrumpft. Er geht.
Die Flut steigt wieder. Sie hat einen Namen: Erschöpfung. Das Bewußtsein zieht sich zurück, es geht zum Grund. Zugrunde gehen. Diesmal sind es Flugmaschinen, die den ohrenzerfetzenden Lärm machen. Tiefflieger in ununterbrochener Folge unmittelbar über unseren Köpfen. Es muß doch einen geheimen Sinn haben, daß alle Arten von Menschenopfern mir vorgeführt werden sollen. Oder hat es den Sinn, mich endlich, nach all den Jahren, Jahrzehnten der Selbsttäuschung, von der durchdringenden Sinnlosigkeit allen Geschehens zu überzeugen? Es ist uns ja eingetrichtert worden, daß alles und jedes dadurch, daß es sich als Geschichte erzählen läßt, sinnhaft wird, seine Sinnhaftigkeit beweist. Ich beginne zu ahnen, aus welchen Quellen diese Bilder kommen, die zu sehen ich gezwungen werde, sobald der Regisseur auf meiner inneren Bühne ausgeschaltet ist.
Ich bitte dich, da du plötzlich schon wieder da bist – welche Tageszeit haben wir eigentlich, Nachmittag?, das wundert mich –, ich bitte dich, mir das kleine blaue Buch mit den Goethe-Gedichten mitzubringen. Gleich morgen. Aber ich merke, du hast anderes im Kopf. Du hast also mit dem Chefarzt gesprochen, hinter meinem Rücken. Der sei ein bißchen unzufrieden mit meinem Fieber. Er denke, man werde noch einmal operieren müssen, den Eiterabszeß entfernen, der dieses Fieber vermutlich erzeuge.
Gib mir bitte zu trinken. Diesmal schafft sie vier Schluck Tee. Komischerweise fallen ihr lauter Goethe-Gedichte ein. Welches willst du wissen, sagst du. – Ach, besonders das: Die Zukunft decket / Schmerzen und Glücke / Schrittweis dem Blicke / Doch ungeschrecket / Dringen wir vorwärts. – Da weiß ich nicht weiter. Etwas mit »Kronen« käme dann. Ich brauche das Buch.
Weißt du eigentlich, daß ich einmal Konrad angerufen habe, weil ich dieses Gedicht nicht fand und er derjenige von unseren Freunden war, der sich an alle Gedichte erinnerte, die er jemals gelesen hatte, und er hatte viele gelesen. Ich war nicht darauf gekommen, es unter den Maurerliedern zu suchen, Konrad wußte es sofort, er kannte es auswendig und unterrichtete mich über Goethes Verhältnis zu den Freimaurern. In unserem ersten Goethe-Seminar in Jena war er tonangebend, er war esauch, der die Ausstellung im Weimarer Schloß mit aufbaute, »Gesellschaft und Kultur der Goethezeit«, er redete von nichts anderem, wenn er mich manchmal abends begleitete, zu dem kleinen Zimmer im Nietzsche-Haus. Nichts sei spannender, als zu erforschen, auf welche Weise bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse ein Genie fesselten und welche Methoden ein Genie entwickle, sich dieser Fesseln wenigstens zeitweise und teilweise zu entledigen.
Komisch, wie das Gehirn funktioniert. Warum fällt mir jetzt Konrad ein. Der war anständig, sage ich, der konnte nichts gegen seine Überzeugung tun. Nicht mal etwas gegen seine Überzeugung sagen. Der wäre heute noch unser Freund, meinst du nicht auch. Der ist zu früh gestorben. Ja, sagst du zerstreut, aber das solle jetzt meine Sorge nicht sein. Du hast mir das kleine schwarze Radio mitgebracht, du stellst es an, um es auszuprobieren, eine männliche Nachrichtenstimme sagt, wieder sei eine Verkehrsmaschine abgestürzt, die Zahl der Opfer sei – Um Gottes willen, sage ich, mach das aus. – Ja doch, sagst du. Ja. Aber was ist denn. – Nichts ist. Nichts. Nur daß ich nicht das winzigste bißchen von einer schlimmen Meldung vertrage, verstehst du. – Gutgut, sagst du.
Geh jetzt bitte, sage ich. Du sagst: Mach doch einfach die Augen zu. Brauchst dich um mich gar nicht zu kümmern. Das versuche ich. Da setzt wieder das Getöse ein. – Geh. – Später, mag sein, werdeich mich wundern, daß ich deine Anwesenheit nicht länger als eine halbe Stunde ertragen habe. Jetzt fehlt mir die Kraft, mich zu wundern. Oder auch nur die Andeutung einer schlechten Nachricht zu ertragen. Das will ich mir merken, daß es einen Grad von Schwäche gibt, da kann man kein Milligramm von Sorge oder Mitleid für noch so entfernte Menschen auf sich nehmen, von nahen Menschen ganz zu schweigen. Daß Helene Husten hat, hättest du mir nicht sagen sollen, auch wenn es aus Verlegenheit geschah, das habe ich genau gemerkt, weil du nach meiner flehentlichen Bitte, nur ja nichts Schlimmes zu erzählen, nicht mehr wußtest, was du überhaupt noch erzählen solltest, und Husten ist doch nichts Schlimmes bei
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