Leichenraub
Mann am Ärmel, versuchte ihn von Aurnia wegzuzerren. »Sie können sie doch nicht draußen in der Kälte stehen lassen!«
»Bitte, machen Sie uns keine Schwierigkeiten!«, sagte die Schwester. »Wenn Sie ein privates Begräbnis wünschen, dann sollten Sie zusehen, dass Sie alles vor morgen Mittag in die Wege leiten, denn sonst wird die Stadt sie auf den Südlichen Friedhof bringen lassen.« Sie wandte sich an den Hausmeister. »Entfernen Sie die Verstorbene.«
Der Mann schob seine kräftigen Arme unter Aurnias Körper und hob sie aus dem Bett. Als er den Leichnam in den Handkarren legte, entwich Rose ein Schluchzen, und ihre Finger krampften sich um das Nachthemd ihrer Schwester, dessen Stoff mit braunen Flecken getrockneten Bluts verkrustet war. Aber keine Schreie, kein Flehen konnte den Lauf der Dinge ändern, die nun folgten: Aurnia, nur in Leinen und Gaze gehüllt, würde in den kalten Hof hinausgefahren werden, ihre zarte Haut würde an das splittrige Holz schlagen, wenn die Räder über das Kopfsteinpflaster holperten. Würde er sie behutsam anfassen, wenn er sie in den Sarg legte? Oder würde er sie einfach nur hineinrollen lassen, sie fallen lassen wie ein Stück Fleisch vom Schlachter, und zulassen, dass ihr Kopf auf die bloßen Kiefernbretter schlug?
»Lassen Sie mich bei ihr bleiben«, flehte sie und griff nach dem Arm des Mannes. »Lassen Sie mich zusehen.«
»Da gibt’s nichts zu sehen, Miss.«
»Ich will nur sichergehen. Ich will die Gewissheit, dass sie gut behandelt wird.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich behandle sie alle gut. Aber Sie können zuschauen, wenn Sie wollen. Mir ist das einerlei.«
»Da ist noch etwas«, sagte Schwester Cabot. »Das Kind. Sie können unmöglich angemessen für den Säugling sorgen, Miss Connolly.«
Die Frau im Bett nebenan sagte: »Sie sind gekommen, als du weg warst, Rose. Jemand vom Säuglingsheim war hier und wollte sie mitnehmen. Aber wir haben das nicht zugelassen. So eine Unverfrorenheit – warten ab, bis du einmal nicht da bist, und versuchen dann, deine Nichte zu stehlen!«
»Mr. Tate hat auf seine Rechte als Vater verzichtet«, sagte Schwester Cabot. »Wenigstens ist ihm klar, was das Beste für das Kind ist.«
»Das Kind ist ihm gleichgültig«, sagte Rose.
»Sie sind viel zu jung, um es selbst großzuziehen. Nehmen Sie doch Vernunft an, Mädchen, und geben Sie es in die Hände von Leuten, die es können.«
Anstelle einer Antwort schnappte Rose sich das Baby aus dem Körbchen und drückte es fest an ihre Brust. »Ich soll sie fremden Menschen überlassen? Da müsste ich schon selbst auf dem Sterbebett liegen.«
Konfrontiert mit Roses offenbar unüberwindlichem Widerstand, stieß Schwester Cabot schließlich einen entnervten Seufzer aus. »Wie Sie wollen. Sie werden es mit Ihrem Gewissen ausmachen müssen, wenn dem Kind etwas zustößt. Ich habe keine Zeit für so etwas; nicht heute Abend, wo doch die arme Agnes …« Sie schluckte krampfhaft und wandte sich dann zum Hausmeister um, der immer noch mit Aurnias Leichnam auf dem Handkarren wartete. »Bringen Sie sie weg.«
Rose hielt Meggie noch immer fest im Arm, als sie dem Mann aus dem Krankensaal hinaus in den Hof folgte. Dort, im gelben Schein seiner Lampe, hielt sie Wache, als Aurnia in den Kiefernsarg gebettet wurde. Sie sah zu, wie er den Deckel festnagelte, mit Hammerschlägen, die wie Pistolenschüsse hallten, und mit jedem Schlag schien es ihr, als würde ein Nagel in ihr eigenes Herz getrieben. Nachdem der Sarg dicht verschlossen war, nahm der Mann ein Stück Holzkohle und schrieb in krakeligen Lettern auf den Deckel: A. Tate.
»Nur damit’s keine Verwechslung gibt«, sagte er, während er sich aufrichtete und sie ansah. »Sie wird noch bis morgen
Mittag hier sein. Treffen Sie bis dahin Ihre Vorbereitungen.«
Rose legte die Hand auf den Deckel. Ich werde einen Weg finden, mein Herz. Ich werde dafür sorgen, dass du ein anständiges Begräbnis bekommst. Sie schlang ihr Tuch um sich und Meggie und verließ den Hof des Krankenhauses.
Sie wusste nicht, wohin sie sich wenden sollte. Ganz bestimmt nicht zurück zum Logierhaus, zu dem Zimmer, das sie mit ihrer Schwester und Eben geteilt hatte. Eben war wahrscheinlich in diesem Moment dort und schlief seinen Rausch aus, und sie hatte keine Lust auf eine Begegnung mit ihm. Am Morgen, wenn er wieder nüchtern wäre, würde sie ihn sich vornehmen. Ihr Schwager war sicherlich herzlos, aber er hatte auch einen kalt berechnenden Verstand. Er
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