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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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hatte ein Geschäft zu führen und einen Ruf zu wahren. Wenn bösartige Gerüchte auch nur den kleinsten Schatten auf seinen Namen fallen ließen, könnte die Glocke über der Tür seiner Schneiderwerkstatt jäh verstummen. Morgen früh, dachte sie, werden Eben und ich unseren Streit beilegen, und er wird uns beide aufnehmen. Schließlich ist sie seine Tochter.
    Aber heute Nacht hatten sie kein Dach über dem Kopf.
    Ihre Schritte verlangsamten sich, bis sie erschöpft an der Straßenecke stehen blieb. Die Macht der Gewohnheit hatte sie in eine vertraute Richtung gelenkt, und nun blickte sie die gleiche Straße hinauf, durch die sie bereits früher an diesem Abend gegangen war. Eine Droschke rumpelte vorbei, gezogen von einem lendenlahmen Pferd mit hängendem Kopf. Selbst so ein ärmliches Gefährt, mit seinen klapprigen Rädern und dem geflickten Verdeck, war ein unerreichbarer Luxus. Sie malte sich aus, wie es wäre, darin zu sitzen, ihre müden Füße auf ein kleines Bänkchen gestellt, geschützt vor Wind und Regen, während sie in der Droschke reiste wie eine Prinzessin. Als das Gefährt weiterrollte, erblickte Rose plötzlich eine wohlbekannte Gestalt, die direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite gestanden hatte.
    »Haben Sie schon das Neueste gehört, Miss Rose?«, rief der
einfältige Billy. »Schwester Poole ist ermordet worden, drüben beim Krankenhaus!«
    »Ja, Billy, ich weiß.«
    »Es heißt, ihr Bauch war ganz aufgeschlitzt, so …« Er fuhr sich mit dem Finger von unten nach oben über den Nabel. »Und den Kopf hat er ihr abgeschlagen mit einem Schwert. Und die Hände auch. Drei Leute haben ihn dabei gesehen, und er ist davongeflogen wie ein großer schwarzer Vogel.«
    »Wer hat dir das erzählt?«
    »Mrs. Durkin, drüben beim Pferdestall. Sie hat’s von Crab gehört.«
    »Ach, dieser Crab, das ist doch ein dummer Bursche. Was du da herumerzählst, ist Unsinn, und du solltest es sein lassen.«
    Er verstummte, und ihr wurde klar, dass sie ihn gekränkt hatte. Seine Füße schleiften wie zwei riesige Anker über das Pflaster. Unter der Mütze, die er tief ins Gesicht gezogen hatte, ragten zwei gewaltige Ohren hervor wie verbogene Teller. Der arme Billy reagierte so selten beleidigt, da vergaß man zu leicht, dass auch er Gefühle hatte.
    »Es tut mir leid«, sagte sie.
    »Was denn, Miss Rose?«
    »Du hast mir nur erzählt, was du gehört hast. Aber nicht alles, was du hörst, ist die reine Wahrheit. Manche Leute lügen. Manche sind richtige Teufel. Du kannst nicht allen Menschen trauen, Billy.«
    »Woher wissen Sie denn, dass es eine Lüge ist? Was Crab gesagt hat?«
    Seine Stimme hatte einen gereizten Klang, den sie von ihm gar nicht kannte, und sie war versucht, ihm die Wahrheit zu sagen: dass sie diejenige war, die Schwester Poole gefunden hatte. Nein, es war besser zu schweigen. Ein Wort in Billys Ohr geflüstert, und wer konnte sagen, in welch entstellter und verzerrter Form die Geschichte morgen die Runde machen – und welch abenteuerliche Rolle sie selbst darin spielen würde?

    Es dürfen keine Gerüchte über mich aufkommen.
    Sie setzte ihren Weg fort, und das Baby schlief noch immer fest in ihren Armen, während sie einer vertrauten Umgebung entgegenstrebte. Wenn man schon in der Gosse schlafen musste, dann lieber in einer Gosse, die man kannte. Vielleicht würde Mrs. Combs von nebenan ihr und Meggie ein Eckchen in ihrer Küche überlassen, nur für die eine Nacht. Ich könnte ihren alten Mantel ausbessern, den mit dem notdürftig geflickten Riss. Das war doch gewiss einen bescheidenen Platz in der Küche wert.
    »Ich hab der Nachtwache alles gesagt, was ich gesehen hab«, sagte Billy, der tänzelnd an ihrer Seite lief. »Ich war ja losgegangen, um nach Tüpfel Ausschau zu halten. Immer wieder bin ich diese Straße rauf- und runtergelaufen, und deswegen sagt die Wache auch, ich wär ein guter Zeuge.«
    »Das bist du sicher.«
    »Es tut mir leid, dass sie tot ist, weil sie mich jetzt nicht mehr auf Botengänge schicken wird. Hat mir jedes Mal einen Penny gegeben, aber letztes Mal nicht. Das ist nicht in Ordnung, oder? Das hab ich der Nachtwache aber nicht gesagt, weil sie sonst denken, ich hätt sie deswegen umgebracht.«
    »Niemand würde so etwas von dir denken, Billy.«
    »Man sollte einen Mann immer für seine Arbeit bezahlen, aber das hat sie letztes Mal nicht getan.«
    Sie gingen zusammen an dunklen Fenstern vorbei, an stillen Häusern. Es ist so spät, dachte sie; alles schläft

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