Leichenraub
der Unzucht hingaben und fortwährend Nachwuchs in die Welt setzten. In Pratts Augen war Rose nur eine von vielen »Bridgets«, eine schmutzige Einwanderin wie Tausende andere, die sich in den Elendsvierteln von South Boston und Charlestown drängten, die mit ihren unreinlichen Angewohnheiten und ihren rotznäsigen Bälgern in der ganzen Stadt Pocken- und Choleraepidemien ausgelöst hatten.
»Miss Connolly ist doch kein Tier«, sagte Norris.
»Sie kennen sie gut genug, um das sagen zu können?«
»Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch eine solche Beleidigung verdient hat.«
»Für einen Mann, der sie kaum kennt, sind Sie sehr schnell bereit, für sie in die Bresche zu springen.«
»Ich habe Mitleid mit ihr. Weil ihre Schwester im Sterben liegt.«
»Ach, das . Das ist vorbei.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es passierte heute am frühen Abend«, erklärte Pratt und klappte sein Notizbuch zu. »Rose Connollys Schwester ist tot.«
8
Wir konnten nicht mehr voneinander Abschied nehmen.
Rose wusch Aurnias Körper mit einem feuchten Lappen; behutsam wischte sie ihr Gesicht sauber von Schmutz, getrocknetem Schweiß und Tränen, dieses Gesicht, das jetzt so seltsam glatt und frei von Sorgenfalten war. Wenn es einen Himmel gab, dachte sie, dann war Aurnia sicher schon dort und konnte sehen, in welch verzweifelter Lage Rose war. Ich habe Angst, Aurnia. Und Meggie und ich wissen nicht, wohin.
Aurnias sorgfältig gebürstetes Haar glänzte im Schein der Lampe; wie kupferfarbene Seide ergoss es sich über das Kissen. Obwohl sie jetzt gewaschen war, haftete der üble Geruch noch an ihr, und der Hauch der Verwesung umfing den Leib der Frau, die einst Rose im Arm gehalten, mit der sie als kleines Mädchen ihr Bett geteilt hatte.
Für mich bist du immer noch schön. Und wirst es immer sein.
In einem kleinen Korb neben dem Bett schlief Meggie tief und fest. Sie ahnte nichts vom Hinscheiden ihrer Mutter, von ihrer eigenen ungewissen Zukunft. Wie deutlich man sieht, dass sie Aurnias Kind ist, dachte Rose. Das gleiche rote Haar, der gleiche lieblich geschwungene Mund. Die letzten zwei Tage war Meggie auf der Station von drei verschiedenen Müttern gestillt worden, die ohne Murren das Kind von einer zur anderen weitergegeben hatten. Sie alle hatten Aurnias Todeskampf miterlebt, und sie wussten, dass sie es nur den Launen der Vorsehung verdankten, dass sie selbst noch nicht zur Kundschaft des Sargtischlers zählten.
Rose blickte auf, als eine Schwester auf sie zukam. Es war Miss Cabot, die nach Schwester Pooles Tod das Kommando übernommen hatte.
»Es tut mir leid, Miss Connolly, aber es ist Zeit, die Verstorbene abzutransportieren.«
»Sie ist doch gerade erst gestorben.«
»Zwei Stunden ist es jetzt her, und wir brauchen das Bett.« Die Schwester reichte Rose ein kleines Bündel. »Die persönlichen Sachen Ihrer Schwester.«
Hier waren die wenigen traurigen Habseligkeiten, die Aurnia ins Krankenhaus mitgebracht hatte: ihr verschmutztes Nachthemd, ein Haarband und der billige kleine Ring aus Blech und buntem Glas, den Aurnia von Kindesbeinen an als Glücksbringer in Ehren gehalten hatte. Am Ende hatte er ihr kein Glück mehr gebracht.
»Das bekommt der Ehemann«, sagte Schwester Cabot. »Und jetzt muss sie weggeschafft werden.«
Rose hörte das Quietschen von Rädern und sah den Hausmeister des Krankenhauses einen Handkarren hereinrollen. »Ich hatte noch nicht genug Zeit, mich zu verabschieden.«
»Es darf keinen weiteren Aufschub geben. Der Sarg steht schon im Hof bereit. Sind Anordnungen für die Beerdigung getroffen worden?«
Rose schüttelte den Kopf. »Ihr Mann hat sich um nichts gekümmert«, sagte sie bitter.
»Wenn die Angehörigen das Geld nicht aufbringen, kann eine würdige Beisetzung arrangiert werden.«
Ein Armenbegräbnis , das war es, was sie meinte. Verscharrt in einem Massengrab, zusammen mit namenlosen Hausierern, Bettlern und Dieben.
»Wie viel Zeit habe ich für die Vorbereitungen?«, fragte Rose.
Schwester Cabot ließ den Blick ungeduldig über die Reihe von Betten schweifen, als dächte sie an die ganze andere Arbeit, die sie noch zu erledigen hatte. »Morgen um die Mittagsstunde«, antwortete sie, »wird der Wagen kommen, um den Sarg abzuholen.«
»So wenig Zeit?«
»Die Verwesung wartet nicht.« Die Schwester wandte sich
ab und gab dem Mann, der stumm im Hintergrund gewartet hatte, ein Zeichen. Er trat vor und schob den Karren an das Bett heran.
»Noch nicht. Bitte .« Rose zog den
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