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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Milch zurückgekommen, die er zweifellos heimlich aus dem Euter einer Kuh oder Ziege gezapft hatte. Rose hatte nicht gefragt, wo sie herkam, während Meggie an dem milchgetränkten Lappen genuckelt hatte; sie war einfach nur dankbar gewesen, irgendetwas zu haben, womit sie den Hunger des Babys stillen konnte.
    Das Kind mochte nun satt sein, Rose selbst aber hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen, und ihr knurrte der Magen. Sie durchstöberte den Heuboden und wühlte im Stroh, bis sie ein Hühnerei fand, warm und offenbar an diesem Morgen frisch gelegt. Sie schlug es auf und legte den Kopf in den Nacken. Das rohe Ei glitt ihr durch die Kehle, und augenblicklich rebellierte ihr Magen gegen den glitschigen, sämigen Dotter. Sie krümmte sich angewidert und nahm ihren ganzen Willen zusammen, um das Ei bei sich zu behalten. Es ist vielleicht das Einzige, was ich heute zu essen bekommen werde, dachte sie, und ich will es nicht vergeuden. Endlich legte sich ihre Übelkeit, und als sie den Kopf hob, fiel ihr Blick auf das Holzkästchen, das in einer Ecke des Heubodens stand.
    Sie klappte den Deckel auf.
    Darin lagen hübsche Glasstückchen, eine Muschel und zwei Knöpfe aus Fischbein – Schätze, die Billy auf seinen Streifzügen durch das West End gesammelt hatte. Ihr war aufgefallen, dass er den Blick stets gesenkt hielt und umhertippelte wie ein alter Mann, die schmalen Schultern hochgezogen – alles nur, um hier einen Penny oder dort eine verlorene Schnalle vom Boden aufzulesen. Jeder Tag war für den einfältigen Billy eine einzige Schatzsuche, und ein hübscher Knopf genügte, um ihn glücklich zu machen. Ja, er war vielleicht der glücklichste Junge von ganz Boston, weil er so leicht mit einem simplen Knopf zufriedenzustellen war. Aber Knöpfe
kann man nicht essen, und mit wertlosem Glasschmuck kann man kein anständiges Begräbnis bezahlen.
    Sie klappte das Kästchen zu und trat ans Fenster, um durch die verschmierte Scheibe hinauszuspähen. Unten sah sie die Hühner im Garten kratzen und picken, zwischen braunen Stängeln und Ranken, die in der Kälte eingegangen waren.
    Billys Schatz erinnerte sie plötzlich an etwas, das sie in ihrer Tasche verstaut hatte, etwas, das sie bis zu diesem Moment völlig vergessen hatte. Sie nahm das Medaillon an der Kette heraus, und beim Anblick von Aurnias Halsschmuck wallte die Trauer erneut in ihr auf. Das Medaillon war herzförmig, die Kette federleicht, ein zartes Band, gemacht für den Hals einer feinen Dame. Rose erinnerte sich daran, wie sie auf Aurnias milchweißer Haut geglänzt hatte. Wie schön meine Schwester doch war, dachte sie, und nun dient sie nur noch den Würmern zur Nahrung.
    Das war echtes Gold. Damit könnte sie Aurnia ein anständiges Begräbnis bezahlen.
    Sie hörte Stimmen und spähte erneut aus dem Fenster. Ein mit Heuballen beladener Wagen war soeben in den Hof eingefahren, und zwei Männer standen daneben und feilschten um den Preis.
    Es wurde Zeit, dass sie verschwand.
    Sie nahm das schlafende Baby auf und stieg die Treppe hinunter. Lautlos schlüpfte sie zur Stalltür hinaus.
    Als die beiden Männer sich endlich auf einen Preis für das Heu geeinigt hatten, war Rose Connolly schon weit weg und schüttelte sich das Stroh aus dem Rock, während sie mit Meggie auf dem Arm in Richtung West End marschierte.
     
    Ein frostiger Nebel lag auf dem Friedhof von St. Augustine und hüllte die Beine der Trauernden ein, deren Oberkörper ohne Verbindung zum Boden über dem weißen Dunst zu schweben schienen. Es sind heute so viele hier, dachte Rose; doch die Trauer dieser Menschen galt nicht Aurnia. Sie sah der Prozession
zu, die dem kleinen, dicht über der Nebelbank dahingleitenden Sarg folgte, und sie konnte jedes Schniefen, jeden Schluchzer hören; jeder Klagelaut eingefangen und verstärkt, als ob die Luft selbst weinte. Das Kinderbegräbnis zog vorüber; schwarze Röcke und Mäntel, die den Nebel zu silbrigen Strudeln aufwirbelten. Niemand beachtete Rose. Mit Meggie im Arm stand sie verloren in einer Ecke des Friedhofs neben dem frisch aufgeschütteten Erdhügel. Für die anderen war sie nur ein Gespenst im Nebel, ihr Kummer unsichtbar für die, deren eigener Schmerz sie blind machte.
    »Jetzt liegt sie wohl tief genug, Miss.«
    Rose wandte sich zu den beiden Totengräbern um. Der ältere wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht und schmierte sich dabei feuchte Erde auf die Wange, die von Jahren der Plackerei in Sonne und Wind tief gefurcht war.

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