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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Armer Mann, dachte sie, in deinem Alter solltest du nicht mehr die Schaufel schwingen müssen, solltest nicht mehr den gefrorenen Boden aufhacken müssen. Aber wir müssen alle essen. Und was würde sie tun, wenn sie so alt war wie er, wenn sie nicht mehr genug sehen konnte, um den Faden ins Nadelöhr einzufädeln?
    »Kommt sonst niemand, um ihr die letzte Ehre zu erweisen?«, fragte er.
    »Niemand sonst«, antwortete Rose und sah auf Aurnias Sarg hinunter. Es war Roses Verlust, ihrer allein, und sie war zu selbstsüchtig, um ihn mit irgendjemandem zu teilen. Sie unterdrückte den plötzlichen Impuls, den Deckel herunterzureißen, um noch einmal das Gesicht ihrer Schwester zu sehen. Was, wenn sie durch irgendein Wunder gar nicht tot wäre? Was, wenn Aurnia sich regte und die Augen aufschlüge? Rose streckte die Hand nach dem Sarg aus und zwang sich sogleich, sie wieder zurückzuziehen. Es gibt keine Wunder, sagte sie sich. Und Aurnia ist tot.
    »Also, bringen wir’s zu Ende?«
    Sie schluckte ihre Tränen hinunter und nickte.
    Der alte Mann drehte sich zu seinem Gehilfen um, einem
jungen Burschen mit stumpfem Blick, der sichtlich lustlos geschaufelt hatte und nun in schlaffer Haltung und mit gleichgültiger Miene dastand. »Hilf mir, sie herunterzulassen.«
    Die Stricke knarrten, als sie den Sarg in das Grab senkten; Erdklumpen lösten sich und fielen mit dumpfem Poltern in die Grube. Ich habe dafür bezahlt, dass du ein Grab ganz für dich allein hast, dachte Rose. Deine eigene Ruhestätte, die du nicht mit einem Mann teilen musst, der dich begrapscht, oder mit einem stinkenden Bettler. Endlich wirst du allein schlafen können, ein Luxus, der dir im Leben stets versagt geblieben ist.
    Mit einem Ruck schlug der Sarg am Boden auf. Der Junge hatte nicht aufgepasst und das Seil zu schnell abrollen lassen. Rose bemerkte den Blick, den der Alte dem Burschen zuwarf, ein Blick, der sagte: Dich knöpfe ich mir später noch vor. Der Junge beachtete ihn gar nicht und zog ungerührt sein Seil aus der Grube. Es glitt heraus wie eine Kobra, und das Ende schlug hart gegen den Kiefernholzsarg. Jetzt, da ihre Arbeit fast erledigt war und sie sich ans Auffüllen der Grube machten, ging der Junge wesentlich munterer zu Werke. Vielleicht dachte er an sein Mittagessen an einem warmen Feuer und daran, dass nur noch dieses eine Grab ihn davon trennte. Er hatte nicht gesehen, wer in dem Sarg lag, und es war ihm auch gleich. Was zählte, war allein, dass dieses Loch gefüllt werden musste, also legte er sich ins Zeug, und Schaufel um Schaufel nasser Erde landete auf dem Sarg.
    Am anderen Ende des Friedhofs, wo das Kind zur letzten Ruhe gebettet wurde, erhob sich aus der Schar der Trauernden ein lautes Wehklagen, und ein so animalischer Schmerzensschrei entrang sich der Kehle einer Frau, dass Rose sich umdrehte und zu dem anderen Grab blickte. Da erst sah sie die geisterhafte Silhouette, die durch den Nebel auf sie zukam. Die Gestalt löste sich aus dem Dunstschleier, der sie umfing, und Rose erkannte das Gesicht, das unter der Kapuze des Umhangs hervorschaute. Es war Mary Robinson, die junge Schwester aus dem Krankenhaus. Mary hielt inne und sah
sich um, als spürte sie, dass jemand hinter ihr stand, doch Rose sah nur die anderen Trauergäste, die wie Statuen im Kreis um das Grab des Kindes standen.
    »Ich wusste nicht, wie ich Sie sonst finden sollte«, sagte Mary. »Mein Beileid zum Tod Ihrer Schwester. Möge Gott ihrer Seele gnädig sein.«
    Rose wischte sich die Augen und schmierte Tränen über ihre vom Nebel feuchte Wange. »Sie waren gut zu ihr, Miss Robinson. Viel besser als …« Sie brach ab, ehe ihr Schwester Pooles Name über die Lippen kam. Von den Toten soll man nicht schlecht reden.
    Mary trat näher. Als Rose ihre Tränen weggeblinzelt hatte, fiel ihr die angespannte Miene der jungen Krankenschwester auf, ihre verkniffenen Augen. Mary beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern, sodass ihre Worte fast im kratzenden Geräusch der Schaufeln untergingen.
    »Es kommen Leute und fragen nach dem Kind.«
    Rose stieß einen müden Seufzer aus und sah auf ihre Nichte hinunter, die ruhig in ihren Armen lag. Die kleine Meggie hatte Aurnias gutmütiges Wesen geerbt, und sie war es zufrieden, einfach still zu liegen und die Welt mit ihren großen Augen zu betrachten. »Ich habe ihnen meine Antwort gegeben. Sie bleibt bei ihrer eigenen Familie. Bei mir.«
    »Rose, das sind nicht die Leute vom Säuglingsheim. Ich habe Miss

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