Leichenraub
beiseitezuziehen, denn die nächste Gruppe von Besuchern war soeben eingetroffen.
Erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus, als Dr. Chester Crouch die Entbindungsstation betrat. Heute wurde Dr. Crouch von Miss Agnes Poole begleitet, der Oberschwester des Krankenhauses, sowie von einer Entourage aus vier Medizinstudenten. Dr. Crouch begann seine Visite am ersten Bett, bei einer Frau, die erst an diesem Morgen eingeliefert worden war, nach zwei Tagen fruchtloser Wehen zu Hause. Die Studenten standen im Halbkreis und sahen zu, wie Dr. Crouch den Arm unter die Bettdecke schob, um die Patientin diskret zu untersuchen. Sie stieß einen Schmerzensschrei aus, als seine Hand tief zwischen ihre Schenkel eindrang. Als er sie wieder hervorzog, waren die Finger blutverschmiert.
»Handtuch!«, kommandierte er, und Schwester Poole reichte ihm prompt das Verlangte. Während er sich die Hand abwischte, sagte er zu den vier Studenten: »Diese Patientin macht keine Fortschritte. Die Lage des Kindskopfes ist unverändert, und die Cervix hat sich nicht vollständig geöffnet. Wie sollte ihr Arzt in diesem Fall verfahren? Sie, Mr. Kingston! Haben Sie eine Antwort?«
Mr. Kingston, ein gut aussehender und elegant gekleideter junger Mann, antwortete ohne Zögern: »Ich denke, dass hier Mutterkorn in Souchong-Tee zu empfehlen wäre.«
»Gut. Was könnte man sonst noch tun?« Er fixierte den kleinsten der vier Studenten, einen Burschen von koboldhafter Erscheinung, wozu nicht zuletzt die großen Ohren beitrugen. »Mr. Holmes?«
»Man könnte es mit einem Abführmittel versuchen, um die Wehen zu fördern.«
»Gut. Und Sie, Mr. Lackaway?« Dr. Crouch wandte sich an einen Mann mit blondem Haar, dessen Gesicht augenblicklich feuerrot anlief. »Was könnte noch getan werden?«
»Ich – also …«
»Das ist Ihre Patientin. Wie werden Sie vorgehen?«
»Ich würde darüber nachdenken müssen.«
»Darüber nachdenken ? Ihr Großvater und Ihr Vater waren beide Ärzte! Ihr Onkel ist Dekan des Boston Medical College.
Sie sind intensiver mit der Heilkunst in Berührung gekommen als irgendeiner Ihrer Kommilitonen. Ich bitte Sie, Mr. Lackaway! Haben Sie denn gar nichts beizutragen?«
Hilflos schüttelte der junge Mann den Kopf. »Es tut mir leid, Sir.«
Seufzend wandte sich Dr. Crouch an den vierten Studenten, einen großen, dunkelhaarigen jungen Mann. »Dann sind Sie jetzt an der Reihe, Mr. Marshall. Was könnte in dieser Situation noch unternommen werden? Eine Patientin in den Wehen, die keine Fortschritte macht?«
»Ich würde sie dazu ermuntern, sich aufzusetzen und aufzustehen«, erwiderte der Student. »Und, wenn Sie dazu in der Lage ist, im Saal auf und ab zu gehen.«
»Was noch?«
»Das ist die einzige zusätzliche Maßnahme, die mir angemessen erscheint.«
»Und was halten Sie davon, die Patientin zur Ader zu lassen?
Eine Pause. Und dann die bedächtige Antwort: »Von der Wirksamkeit dieser Behandlung bin ich nicht überzeugt.«
Dr. Crouch lachte verblüfft auf. »Sie – Sie sind nicht überzeugt?«
»Auf der Farm, auf der ich aufgewachsen bin, habe ich mit Aderlass experimentiert, und auch mit Schröpfen. Ich habe mit diesen Maßnahmen genauso viele Kälber verloren wie ohne sie.«
»Auf der Farm ? Sie sprechen von Aderlass bei Kühen ?«
»Und Schweinen.«
Schwester Agnes Poole kicherte.
»Wir haben es hier mit Menschen zu tun, nicht mit Vieh, Mr. Marshall«, sagte Dr. Crouch. »Nach meiner Erfahrung ist ein therapeutischer Aderlass äußerst wirksam als schmerzstillende Maßnahme. Er sorgt dafür, dass die Patientin sich so weit entspannt, dass der Muttermund sich richtig öffnen kann. Wenn das Mutterkorn und das Abführmittel nicht wirken, werde ich diese Patientin ganz sicher zur Ader lassen.«
Er gab Schwester Poole das schmutzige Handtuch zurück und ging weiter zu Bernadettes Bett. »Und diese hier?«, fragte er.
»Ihr Fieber ist zwar abgeflaut«, antwortete Schwester Poole, »aber der Ausfluss ist jetzt sehr übel riechend. Sie hat die Nacht unter großen Schmerzen zugebracht.«
Wieder langte Dr. Crouch unter die Decke, um die inneren Organe abzutasten. Bernadette ließ ein schwaches Stöhnen hören. »Ja, ihre Haut ist ganz kühl«, pflichtete er bei. »Aber in diesem Fall …« Er brach ab und blickte auf. »Sie hat Morphium bekommen?«
»Mehrmals, Sir. Wie Sie angeordnet haben.«
Er zog die Hand unter der Bettdecke hervor. Gelblicher Schleim glitzerte auf seinen Fingern, und die Schwester reichte ihm
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