Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
wie Glas.
    »Da drüben!«, ertönte eine Stimme.
    Ein Schuss knallte, und die Kugel zischte haarscharf an Jacks Wange vorbei. Er rappelte sich auf und kletterte über die Steinmauer, ließ die Schaufel liegen, wo er sie hatte fallen lassen. Als er den Bock erklomm, pfiff eine zweite Kugel so knapp an seinem Kopf vorbei, dass er spürte, wie sie seine Haare streifte.
    »Er entkommt uns!«
    Ein Peitschenschlag, und das Pferd galoppierte los und zog den wild ratternden Wagen hinter sich her. Jack hörte noch einen letzten Schuss, dann blieben seine Verfolger zurück, und die Dunkelheit verschluckte das Licht ihrer Laternen.
    Als er endlich die Zügel anzog, keuchte das Pferd vor Erschöpfung, und er wusste, wenn er ihm keine Pause gönnte, würde er es auch noch verlieren, wie er schon seine Schaufel
und seine Laterne verloren hatte. Und wie würde er dann dastehen – ein Handwerker ohne Handwerkszeug?
    In einem Handwerk, für das er allmählich zu alt wurde.
    Diese Nacht konnte er komplett in den Wind schreiben. Und was würde die nächste bringen, und die Nacht darauf? Er dachte an den Kasten unter dem Schlafzimmerboden, an das Geld, das er gespart hatte. Nicht genug – es war nie genug. Er musste an die Zukunft denken, an seine und Fannys. Wenn sie die Gastwirtschaft halten könnten, würden sie wenigstens nicht verhungern. Aber was für ein trostloser Lebensabend, wenn die Hoffnungen für die Zukunft sich darin erschöpften, dass man wenigstens nicht verhungern würde.
    Und selbst das war nicht gewiss. Der Hungertod war eine ständige Bedrohung. Ein verirrter Funke aus dem Kamin, der die Gaststube in Brand setzte, und das Black Spar, das Lokal, das Fannys Vater ihnen hinterlassen hatte, wäre verloren. Dann würde Jack sie beide allein ernähren müssen, eine Belastung, der er von Jahr zu Jahr weniger gewachsen war. Und das lag nicht nur an seinen schlimmen Knien und seinen Kreuzschmerzen, sondern auch am Geschäft selbst. Überall schossen neue medizinische Hochschulen aus dem Boden, und die Studenten brauchten Leichen. Die Nachfrage war gestiegen, was neue Leichenräuber auf den Plan rief; allesamt jünger, schneller und wagemutiger als er.
    Und mit gesunden Rücken.
    Vor einer Woche war Jack mit einem leider schon stark in Mitleidenschaft gezogenen Exemplar bei Dr. Sewall erschienen – noch dem Besten, was er in dieser Nacht hatte auftreiben können. Im Hof hatte er sechs Fässer stehen sehen, alle versehen mit der Aufschrift Eingelegte Gurken .
    »Die sind gerade angeliefert worden«, hatte Sewall ihm erklärt, während er das Geld abgezählt hatte. »Und alle in gutem Zustand.«
    »Das sind ja nur fünfzehn Dollar«, hatte Jack sich beschwert, als Sewall ihm die Münzen in die Hand gedrückt hatte.
    »Ihr Exemplar ist schon halb verwest, Mr. Burke.«

    »Ich habe mit zwanzig gerechnet.«
    »Ich habe für die dort in den Fässern zwanzig pro Stück bezahlt«, erwiderte Sewall. »Sie sind viel besser erhalten, und ich kann sechs Stück auf einmal bekommen. Direkt aus New York angeliefert.«
    Der Teufel soll New York holen, dachte Jack, während er zitternd auf seinem Wagen kauerte. Wo soll ich in Boston noch Ware herbekommen? Es starben einfach nicht genug Leute. Was es brauchte, war eine ordentliche Seuche, die in den Elendsvierteln von Southie und Charlestown einmal so richtig aufräumte. Niemand würde das Lumpenpack vermissen. Da wären diese Iren endlich mal zu etwas nütze. Ja, sie könnten ihn reich machen. Um reich zu werden, hätte Jack Burke seine Seele verkauft.
    Vielleicht hatte er sie ja schon verkauft.
    Als er das Black Spar erreichte, waren seine Glieder steif, und er schaffte es kaum, vom Wagen zu steigen. Er führte das Pferd in den Stall, klopfte sich den gefrorenen Matsch von den Stiefeln und wankte erschöpft in die Gaststube. Alles, was er jetzt wollte, war ein warmes Plätzchen am Feuer und ein Glas Brandy. Doch kaum hatte er sich in einen Sessel sinken lassen, da merkte er schon, wie Fanny hinter der Theke ihn beäugte. Er ignorierte sie, ignorierte alles um sich herum und starrte in die Flammen, während er darauf wartete, dass das Gefühl in seine tauben Zehen zurückkehrte. Die Schenke war fast leer; die Kälte hatte die wenigen Stammgäste ferngehalten, und an diesem Abend hatte es nur die elendsten der Vagabunden von der Straße hereingeschwemmt. An der Theke stand ein Mann, der verzweifelt in seinen dreckigen Taschen nach ein paar Münzen kramte. Nichts konnte einer bitterkalten

Weitere Kostenlose Bücher