Leichenraub
fanden sie das ausgesprochen witzig.«
»Das ist doch krank.«
»Die meisten normalen Menschen würden Ihnen da beipflichten. Und das erklärt, wie es zu den Anatomie-Unruhen kommen konnte, bei denen aufgebrachte Menschenmengen die Hochschulen angriffen. Es passierte in Philadelphia, in Baltimore und in New York. Alle medizinischen Hochschulen im Land mussten damals jederzeit damit rechnen, dass ihre Gebäude niedergebrannt wurden. Der Abscheu und das Misstrauen in der Bevölkerung saßen so tief, dass ein einziger Vorfall genügte, um einen Aufruhr auszulösen.«
»Mir scheint, dass das Misstrauen der Menschen durchaus begründet war.«
»Aber wo wären wir heute, wenn angehende Ärzte keine Leichen sezieren dürften? Wenn Sie an die Medizin als Wissenschaft glauben, dann müssen Sie auch die Notwendigkeit anatomischer Studien anerkennen.«
In der Ferne ertönte das Nebelhorn der Fähre. Julia sah auf ihre Uhr und stand auf. »Ich muss jetzt los, Henry. Wenn ich die nächste Fähre erwischen will.«
»Wenn Sie wiederkommen, können Sie mir helfen, die Kartons aus dem Keller raufzutragen.«
»Ist das eine Einladung?«
Verärgert pochte er mit seinem Gehstock auf den Boden. »Ich dachte, das versteht sich von selbst.«
Julia betrachtete den Stapel ungeöffneter Kartons und dachte an die ungehobenen Schätze, die darin verborgen lagen, all die Briefe, die es noch zu lesen galt. Sie wusste nicht, ob die Kartons die Antwort auf die Frage nach der Identität der Gebeine aus ihrem Garten enthielten. Was sie aber wusste, war, dass die Geschichte von Norris Marshall und dem West End Reaper sie schon jetzt in ihren Bann geschlagen hatte und dass sie begierig war, mehr zu erfahren.
»Sie kommen doch wieder, nicht wahr?«, fragte Henry.
»Warten Sie, ich schau mal in meinen Terminkalender.«
Es war schon fast Abendessenszeit, als sie endlich in Weston ankam. Hier schien wenigstens die Sonne, und sie freute sich schon darauf, den Grill anzuwerfen und sich mit einem Glas Wein in den Garten zu setzen. Doch als sie in ihre Auffahrt einbog und den silbernen BMW erblickte, der dort parkte, krampfte sich ihr Magen so heftig zusammen, dass ihr beim bloßen Gedanken an Wein schon schlecht wurde. Was tat Richard denn hier?
Sie stieg aus und schaute sich suchend um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Erst als sie durchs Haus gegangen war und aus der Küchentür trat, sah sie ihn: Er stand unten im Garten und inspizierte das Grundstück.
»Richard?«
Ihr Exmann drehte sich zu ihr um, als sie auf ihn zuging. Es war fünf Monate her, dass sie ihn zuletzt gesehen hatte. Er sah fitter und schlanker aus, und seine Haut war noch tiefer gebräunt. Es tat weh, zu sehen, wie gut die Scheidung ihm ganz offensichtlich getan hatte. Oder lag es daran, dass sie so viel Zeit in exklusiven Countryclubs verbrachten, er und seine Tiffani mit »i«?
»Ich habe versucht, dich anzurufen, aber du gehst ja nie ran«, sagte er. »Ich dachte, vielleicht willst du ja nicht mit mir telefonieren.«
»Ich war übers Wochenende in Maine.«
Es fragte gar nicht erst nach dem Grund; nichts, was sie tat, interessierte ihn wirklich. Stattdessen deutete er auf den unkrautüberwucherten Garten. »Nettes Grundstück. Da könntest du eine Menge draus machen. Es ist sogar Platz für einen Pool.«
»Ich kann mir keinen Swimmingpool leisten.«
»Dann eben eine Sonnenterrasse. Du musst nur das ganze Gestrüpp da unten am Bach rausreißen.«
»Richard, warum bist du hier?«
»Ich war zufällig in der Nähe. Da dachte ich mir, ich schau mal vorbei und seh mir dein neues Zuhause an.«
»Tja, mehr gibt es da nicht zu sehen.«
»Das Haus sieht aus, als müsste man noch einiges dran machen.«
»Ich richte es nach und nach her.«
»Wer hilft dir dabei?«
»Niemand«, antwortete sie mit stolz emporgerecktem Kinn. »Ich habe die Badezimmerfliesen selbst verlegt.«
Wieder schien er nicht einmal zu registrieren, was sie gesagt hatte. Es war eines ihrer üblichen Einbahn-Gespräche. Beide redeten, aber sie war die Einzige, die zuhörte. Erst jetzt wurde ihr das bewusst.
»Hör zu, ich habe eine lange Fahrt hinter mir, und ich bin müde«, sagte sie und wandte sich zum Haus um. »Ich bin eigentlich nicht in geselliger Stimmung.«
»Warum hast du hinter meinem Rücken über mich geredet?«, fragte er.
Sie hielt inne und sah ihn an. »Was?«
»Offen gestanden, ich bin überrascht, Julia. Ich hätte nie gedacht, dass du so nachtragend sein könntest, aber
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