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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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ist?«
    »Bloß irgendein Herumtreiber vom Hafen. Er ist allein gekommen.«
    Jacks Rücken schmerzte, als er sich aufrichtete und Fanny ansah. »Du ziehst ihm die Kleider aus. Ich gehe inzwischen den Wagen anspannen.«
    Er musste ihr nichts erklären; sie erwiderte seinen Blick mit einem Nicken und einem verschlagenen Blitzen in den Augen.
    »So verdienen wir uns doch noch unsere zwanzig Dollar«, sagte er.

16
    Gegenwart
     
    »›Auferstehungsmann‹«, sagte Henry, »ist ein altes Wort, das niemand mehr gebraucht. Die meisten Leute wissen heute gar nicht mehr, dass es früher einen Grab- oder Leichenräuber bezeichnete.«
    »Und Norris Marshall war so ein Mann«, meinte Julia.
    »Nur aus Not. Es war eindeutig nicht sein Gewerbe.«
    Sie saßen am Esstisch und hatten die Seiten des neu entdeckten Briefes von Oliver Wendell Holmes neben ihren Kaffeetassen und den Muffins ausgebreitet. Obwohl es schon später Vormittag war, hingen immer noch dichte Nebelschwaden vor den Fenstern, die aufs Meer gingen, und Henry hatte alle Lichter eingeschaltet, um das düstere Zimmer heller zu machen.
    »Frische Leichen waren zur damaligen Zeit ein wertvoller Rohstoff. So wertvoll, dass ein schwunghafter Handel damit betrieben wurde. Und alles nur, um den Bedarf der neuen medizinischen Hochschulen zu decken, die im ganzen Land wie Pilze aus dem Boden schossen.« Henry schlurfte zu einem der Bücherregale, zog aus den Reihen vergilbter Bände ein Buch heraus und trug es an den Tisch, an dem er und Julia gefrühstückt und dabei gelesen hatten. »Sie müssen sich klarmachen, was es bedeutete, um 1830 in Amerika Medizin zu studieren. Es gab keine wirklichen Qualitätsstandards, keine offizielle Zulassung für medizinische Lehranstalten. Manche waren halbwegs brauchbar, andere kaum mehr als Projekte von Profitmachern, die möglichst viel Studiengebühren einsacken wollten.«
    »Und die Hochschule, an der Wendell Holmes und Norris Marshall studierten?«

    »Das Boston Medical College gehörte zu den besseren. Aber selbst dort mussten die Studenten sich um die Leichen balgen. Ein wohlhabender Student konnte einen Auferstehungsmann bezahlen, um an einen Leichnam als Studienobjekt heranzukommen. Aber wenn man arm war wie Mr. Marshall, musste man selbst losziehen und sich eine Leiche ausbuddeln. Wie es aussieht, hat er sich auf diese Weise auch sein Studium finanziert.«
    Julia schauderte. »Auf so ein Praktikum hätte ich wohl lieber verzichtet.«
    »Aber es war ein Weg für einen mittellosen jungen Mann, es zum Arzt zu bringen. Kein leichter Weg, ganz bestimmt nicht. Um Medizin studieren zu können, brauchte man keinen College-Abschluss, aber man musste Kenntnisse in Latein und Physik vorweisen. Norris Marshall muss sich dieses Wissen im Selbststudium angeeignet haben – keine geringe Leistung für einen Farmerssohn ohne bequemen Zugang zu einer Bibliothek.«
    »Er muss unglaublich begabt gewesen sein.«
    »Und entschlossen. Aber der Lohn der Mühen war offensichtlich. Der Arztberuf bot eine der wenigen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs. Ärzte genossen hohen Respekt. Solange man allerdings noch Medizinstudent war, begegneten einem die Menschen eher mit Abscheu oder gar mit Angst.«
    »Wieso?«
    »Weil man sie als eine Art Geier betrachtete, die hinter Leichen her waren. Die sie ausbuddelten und aufschnitten. Sicher waren die Studenten mit ihren wilden Eskapaden oft auch selbst schuld an ihrem schlechten Ruf, besonders durch die derben Scherze, die sie mit Leichenteilen trieben. Zum Beispiel, mit abgetrennten Armen aus dem Fenster zu winken.«
    »Das haben sie gemacht?«
    »Vergessen Sie nicht, das waren junge Männer, alle erst Anfang zwanzig. Und Männer dieses Alters sind nicht gerade bekannt
für ihre Reife und Einsicht.« Er schob ihr das Buch hin. »Es steht alles da drin.«
    »Sie haben sich schon über das Thema informiert?«
    »Oh, ich weiß eine ganze Menge darüber. Mein Vater und mein Großvater waren beide Ärzte, und ich habe diese Geschichten gehört, seit ich ein kleiner Junge war. In unserer Familie hat eigentlich so gut wie jede Generation einen Arzt hervorgebracht. Mich hat das Mediziner-Gen wohl leider übersprungen, aber mein Großneffe setzt die Tradition fort. Als ich ein junger Bursche war, hat mein Großvater mir eine Anekdote von einem Studenten erzählt, der eine Frauenleiche aus dem Sektionssaal herausschmuggelte. Er legte sie seinem Zimmergenossen ins Bett, um ihm einen Streich zu spielen. Offenbar

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