Leichenraub
wenn du eine Kirchenbank drückst.«
Mit einem Schnauben wandte Norris sich ab und griff nach seinem Gehrock, dem einzigen Kleidungsstück, das von Mary Robinsons Blut verschont geblieben war – und das nur, weil er ihn letzte Nacht dagelassen hatte. »Du hast ja merkwürdige Vorstellungen vom edlen Beruf des Farmers.«
»Ich erkenne einen Mann der Wissenschaft, wenn er vor mir steht. Und ich habe auch deine Großzügigkeit bemerkt.«
»Meine Großzügigkeit?«
»Im Sektionssaal, als Charles den alten Paddy so fürchterlich zugerichtet hat. Wir wissen beide, dass Charles so dicht davorsteht, vom College zu fliegen. Aber du bist vorgetreten und hast ihn in Schutz genommen, im Gegensatz zu Edward und mir.«
»Das hat doch nichts mit Großzügigkeit zu tun. Ich konnte es einfach nicht ertragen, einen erwachsenen Mann weinen zu sehen.«
»Norris, du bist anders als die meisten anderen in unserem Kurs. Du hast eine Berufung. Denkst du, Charles Lackaway macht sich irgendetwas aus Anatomie, aus Materia medica ? Er ist nur hier, weil sein Onkel es von ihm erwartet. Weil sein verstorbener Vater Arzt war und sein Großvater ebenfalls, und weil er nicht den Mumm hat, sich seiner Familie zu widersetzen. Und Edward – der macht sich gar nicht erst die Mühe, sein Desinteresse zu verbergen. Die Hälfte der Studenten ist allein ihren Eltern zuliebe hier, und von den anderen wollen die meisten nur ein Handwerk lernen, das ihnen ein bequemes Auskommen ermöglicht.«
»Und warum bist du hier? Weil du dich auch berufen fühlst?«
»Ich gebe zu, die Medizin war nicht meine erste Wahl. Aber von der Dichtung kann man kaum leben. Obwohl ich schon im Daily Advertiser veröffentlicht habe.«
Norris musste sich beherrschen, um nicht zu lachen. Wenn das keine nutzlose Beschäftigung war: das Privileg begüterter Männer, die es sich leisten konnten, kostbare Stunden mit Verseschmieden zu vergeuden. Diplomatisch antwortete er: »Ich bin mit deinem Werk leider nicht vertraut.«
Wendell seufzte. »Dann wirst du wohl verstehen, warum ich die Dichtung nicht zu meinem Brotberuf machen wollte. Und für das Jurastudium war ich ebenso wenig geeignet.«
»Die Medizin ist also nur deine dritte Wahl. Das hört sich kaum nach einer Berufung an.«
»Aber sie ist zu meiner Berufung geworden . Ich weiß, dass ich dazu bestimmt bin.«
Norris griff nach seinem Mantel und hielt einen Herzschlag lang inne, den Blick auf die Blutflecken geheftet. Dann zog er ihn dennoch an. Ein Blick aus dem Fenster auf den Reif, der auf der Wiese lag, sagte ihm, dass er an diesem Tag jede wärmende Schicht würde brauchen können, die seine dürftige Garderobe zu bieten hatte. »Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest – ich will zusehen, dass ich wenigstens den Rest des Tages noch einigermaßen sinnvoll nutze. Ich muss Dr. Crouch mein Fehlen erklären. Ist er noch im Krankenhaus?«
»Norris, wenn du ins Krankenhaus gehst, muss ich dich vor dem warnen, was dich dort erwartet.«
Norris drehte sich zu ihm um. »Was?«
»Es wird viel geredet, unter den Patienten und dem Personal. Man macht sich so seine Gedanken über dich. Die Leute haben Angst.«
»Sie glauben, dass ich sie getötet habe?«
»Die Kuratoren haben mit Mr. Pratt gesprochen.«
»Sie hören doch nicht etwa auf sein Geschwätz?«
»Sie haben keine andere Wahl, als ihn anzuhören. Sie sind für die Einhaltung der Ordnung im Krankenhaus verantwortlich. Sie können gegen jeden Arzt, der dort arbeitet, disziplinarische Maßnahmen ergreifen. Und ganz bestimmt haben sie die Macht, einen einfachen Medizinstudenten aus dem Krankenhaus zu verweisen.«
»Aber wie soll ich dann lernen? Wie soll ich mein Studium fortsetzen?«
»Dr. Crouch versucht, mit ihnen zu reden. Und auch Dr. Grenville hat sich gegen deinen Ausschluss ausgesprochen. Aber es gibt noch andere …«
»Andere?«
»Gerüchte unter den Familien der Patienten. Und auch auf der Straße.«
»Was sagen sie?«
»Die Tatsache, dass ihr die Zunge entfernt wurde, hat einige davon überzeugt, dass der Mörder ein Medizinstudent sein muss.«
»Oder jemand, der schon einmal Tiere geschlachtet hat«, sagte Norris. »Und auf mich trifft beides zu.«
»Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, wie die Dinge stehen. Dass die Menschen … nun ja, sich vor dir fürchten.«
»Und wieso fürchtest du dich nicht vor mir? Wieso nimmst du an, ich sei unschuldig?«
»Ich nehme gar nichts an.«
Norris lachte verbittert auf. »Oh, es geht doch nichts über
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