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Leichenraub

Leichenraub

Titel: Leichenraub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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müssen als bis zum Zentralfriedhof am Boston Common. Dort konnte er in einer mondlosen Nacht mit ein paar flinken Helfern unter einem reichen Angebot an Almosenempfängern, Papisten und alten Soldaten wählen. Ob reich oder arm, eine Leiche war eine Leiche, und jede brachte die gleiche Summe ein. Den Anatomen war es egal, ob das Fleisch, in das sie schnitten, wohlgenährt oder ausgezehrt war.
    Aber inzwischen hatten die Medizinstudenten mit ihrer achtlosen Buddelei und ihren nachlässigen Versuchen, die Spuren ihres Tuns zu beseitigen, diese Quelle versiegen lassen. Von Alkohol und Draufgängertum befeuert, fielen sie in die Friedhöfe ein und hinterließen zerstörte Gräber und zertrampelte Erde, derart offenkundige Anzeichen ihrer Grabschändung, dass selbst die Armen bald dazu übergingen, ihre Toten zu bewachen. Diese verdammten Studenten hatten den professionellen Leichenräubern wie ihm das Geschäft ruiniert. Früher hatte er gut davon leben können. Aber heute Nacht war an einen schnellen Beutezug nicht zu denken; stattdessen musste er eine mühselige Fahrt auf dieser endlosen Nebenstraße auf sich nehmen, und ihm graute schon vor der Plackerei, die auf ihn wartete. Obendrein war er ganz auf sich gestellt; in diesen Zeiten, wo es so wenig zu holen gab, scheute er die Kosten für einen Partner. Nein, heute Nacht würde er alles ganz allein machen müssen. Er hoffte nur, bald ein frisches Grab zu finden, am besten eines, bei
dem die Totengräber zu faul gewesen waren, die vollen sechs Fuß auszuheben.
    Seine eigene Leiche würde nicht so schlampig verscharrt werden.
    Schielaugen-Jack wusste genau, wie er begraben werden würde. Er hatte alles sorgfältig geplant. Zehn Fuß tief, mit einem Eisenkäfig um den Sarg und einem Wächter, der dafür bezahlt würde, ihn dreißig Tage lang zu bewachen. Lange genug, um das Fleisch verrotten zu lassen. Er hatte gesehen, was die Messer der Anatomen anrichteten. Er war dafür bezahlt worden, die Überreste zu beseitigen, nachdem sie mit Schneiden und Sägen fertig waren, und er hatte keine Lust, als Haufen abgetrennter Gliedmaßen zu enden. Kein Doktor würde seine Leiche je anrühren, dachte er. Schon jetzt sparte er für sein eigenes Begräbnis, und er bewahrte seinen Schatz in einem Kästchen unter den Dielen im Schlafzimmer auf. Fanny wusste, was für ein Grab er wollte, und er würde ihr genug hinterlassen, um dafür zu sorgen, dass alles ordnungsgemäß erledigt wurde.
    Für Geld konnte man alles kaufen. Sogar Schutz vor Männern wie Jack.
    Vor ihm lag die niedrige Friedhofsmauer. Er zog die Zügel an und verharrte einen Moment auf der Straße, um das Dunkel abzusuchen. Der Mond war schon untergegangen, und nur die Sterne schimmerten über dem Gräberfeld. Jack griff hinter sich nach Schaufel und Laterne und sprang vom Wagen. Unter seinen Sohlen knirschte die vom Frost aufgebrochene Erde. Seine Beine waren steif von der langen Fahrt, und die Laterne schlug scheppernd gegen die Schaufel, als er schwerfällig über die Steinmauer kletterte.
    Es dauerte nicht lange, bis er ein frisches Grab entdeckt hatte. Im Schein der Laterne war ein Haufen aufgeworfener Erde zu sehen, der noch nicht mit einer Eisschicht überzogen war. Er warf einen Blick auf die Grabsteine zur Linken und zur Rechten, um zu sehen, wie die Särge ausgerichtet waren. Dann stieß er genau dort, wo der Kopf sein musste,
die Schaufel in die Erde. Schon nach wenigen Minuten war er außer Atem. Er musste eine Pause machen, sein Atem ging pfeifend in der eisigen Luft, und er bedauerte allmählich, den jungen Norris Marshall nicht mitgenommen zu haben. Aber er würde den Teufel tun und auch nur einen Dollar von seinem Lohn abgeben, wenn er die Arbeit ebenso gut allein bewältigen konnte.
    Wieder stieß er die Schaufel in den Boden und wollte eben den nächsten Haufen Erde herausheben, als ein lauter Ruf ihn erstarren ließ.
    »Da ist er! Schnappt ihn euch!«
    Drei Laternen kamen schwankend auf ihn zu, so schnell, dass ihm keine Zeit blieb, sein eigenes Licht zu löschen. In seiner Panik ließ er die Laterne einfach stehen und flüchtete nur mit der Schaufel. Der Weg lag in völliger Dunkelheit, und jeder Grabstein war ein Hindernis, das nur darauf lauerte, ihn wie mit knochigen Händen zu Fall zu bringen und seine Flucht zu vereiteln. Der Friedhof selbst schien sich an ihm rächen zu wollen für all seine Freveltaten in der Vergangenheit. Er strauchelte und fiel auf die Knie, und das Eis unter ihm splitterte

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