Leichenraub
einen loyalen Freund!«
»Verdammt, das ist genau das, was ein Freund tun würde! Er würde dir die Wahrheit sagen. Dass deine Zukunft auf dem Spiel steht.« Wendell ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Du hast mehr dickköpfigen Stolz im Leib als sämtliche Söhne reicher Eltern, die ich je gekannt habe, und du benutzt ihn, um alles in den schwärzesten Farben zu malen. Ich brauche keinen Freund wie dich. Und ich will auch keinen Freund wie dich.« Er riss die Tür auf.
»Wendell.«
»Es wäre klug von dir, mit Dr. Crouch zu sprechen. Und du solltest anerkennen, dass er dich verteidigt. Wenigstens er hat diese Anerkennung verdient.«
»Wendell, es tut mir leid«, sagte Norris. Und er seufzte. »Ich bin es nicht gewohnt, das Beste von anderen Menschen anzunehmen.«
»Also nimmst du immer gleich das Schlimmste an?«
»Ich werde selten enttäuscht.«
»Dann brauchst du einen besseren Bekanntenkreis.«
Darüber musste Norris lachen. Er setzte sich aufs Bett und rieb sich das Gesicht. »Da hast du wohl recht.«
Wendell schloss die Tür und kam auf ihn zu. »Was wirst du tun?«
»Gegen die Gerüchte? Was kann ich schon tun? Je mehr ich auf meiner Unschuld beharre, desto schuldiger erscheine ich.«
»Du musst etwas tun. Es geht um deine Zukunft.«
Und die hing an einem seidenen Faden. Es brauchte nur den Hauch eines Zweifels, ein paar Gerüchte – und der Vorstand des Krankenhauses würde ihn für immer aus den Stationen verbannen. Wie leicht ist doch ein Ruf besudelt, dachte Norris. Der Verdacht würde an ihm kleben wie ein blutbefleckter Mantel, würde ihm alle Aussichten ruinieren, alle Wege verbauen, bis ihm nur noch eine Richtung offenstünde: zurück zur Farm seines Vaters. In ein Haus, das er mit einem kalten, freudlosen Mann teilen müsste.
»Solange dieser Mörder nicht gefasst ist«, sagte Wendell, »werden alle Augen auf dich gerichtet bleiben.«
Norris sah auf seinen blutbefleckten Rock, und mit einem Frösteln erinnerte er sich an die Kreatur, die oben auf der Uferböschung gestanden und zu ihm herabgestarrt hatte. Ich habe ihn mir nicht eingebildet.
Rose Connolly hat ihn auch gesehen.
15
Noch eine Woche von diesem bitterkalten Wetter, dachte Schielaugen-Jack, und der Boden wird so tief gefroren sein, dass man nicht mehr graben kann. Bald würden sie die Leichen in oberirdischen Grüften lagern, wo sie bis zum Einsetzen des Frühlingstauwetters blieben. Dann würden schwere Schlösser zu überwinden sein und Friedhofswärter zu bestechen – eine ganze Reihe neuer Komplikationen, die der Wetterumschwung mit sich brachte. In Jacks Augen war der Wechsel der Jahreszeiten nicht an der Apfelblüte oder dem fallenden Laub im Herbst abzulesen, sondern an der Qualität des Bodens. Im April musste man mit dem Matsch kämpfen, so dick und gefräßig, dass er einem glatt die Stiefel von den Füßen zog. Im August waren die Erdschollen trocken und zerbröckelten in der Hand leicht zu warmem Staub – eine gute Zeit zum Graben, abgesehen davon, dass man mit jedem Spatenstich eine Wolke stechwütiger Mücken aufscheuchte. Im Januar tönte das Schaufelblatt wie eine Glocke, wenn man es in den gefrorenen Boden rammte, und von der Erschütterung, die sich durch den Stiel übertrug, taten einem die Hände weh. Selbst ein Feuer, das man auf dem Grab brennen ließ, brauchte Tage, um den Boden aufzutauen. Nur wenige Leichen wurden im Januar beigesetzt.
Doch jetzt im Spätherbst gab es noch eine reiche Ernte einzubringen.
Und so lenkte Jack seinen Rollwagen durch die dichter werdende Dunkelheit. Knirschend rumpelten die Räder durch den mit einer dünnen Eisschicht überzogenen Morast. Zu dieser Stunde begegnete ihm auf dieser einsamen Straße kein Mensch. Hinter einem Feld, das mit braunen, abgebrochenen Maisstängeln übersät war, sah er im Fenster eines Bauernhauses
Kerzenlicht schimmern, doch nichts rührte sich ringsum, und er hörte lediglich den Hufschlag des Pferdes und das Knacken des Eises unter den Wagenrädern. In einer bitterkalten Nacht wie dieser nahm er nur ungern eine so weite Fahrt auf sich, doch es blieb ihm kaum eine Wahl. Auf dem Old-Granary-Friedhof hatten sie jetzt Grabwächter postiert, ebenso auf Copp’s Hill in der North Side. Selbst auf dem abgelegenen Gottesacker von Roxbury Crossing patrouillierten jetzt Wachen. Jeden Monat, so kam es ihm vor, war er gezwungen, noch ein Stück weiter hinauszufahren. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er nicht weiter fahren
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