Leichenraub
für den Augenblick ihre Anstellung nicht in Gefahr schien.
»Es geht um diese andere Sache«, fuhr er fort. »Ich verbitte mir, dass ich hier ständig von Außenstehenden gestört werde in Angelegenheiten, die du in deiner Freizeit regeln solltest. Sag deinen Bekannten, dass du zum Arbeiten hier bist.«
Jetzt begriff sie. »Verzeihen Sie, Sir. Letzte Woche habe ich Billy gesagt, dass er nicht hierherkommen soll, und ich dachte, er hätte verstanden. Aber er hat den Verstand eines Kindes, und er begreift es einfach nicht. Ich werde es ihm noch einmal erklären.«
»Diesmal war es nicht der Junge. Sondern ein Mann.«
Rose erstarrte. »Was für ein Mann?«, fragte sie leise.
»Glaubst du, ich habe die Zeit, jeden Kerl nach seinem Namen zu fragen, der meinen Mädchen nachschleicht? Irgend so ein Bursche mit stechendem Blick, der alle möglichen Fragen über dich gestellt hat.«
»Was für Fragen?«
»Wo du wohnst, wer deine Freundinnen sind. Als ob ich dein Privatsekretär wäre! Das hier ist ein Geschäft, Miss Connolly, und ich werde solche Störungen nicht länger dulden.«
»Es tut mir leid«, murmelte sie.
»Das sagst du immer wieder, und es wird trotzdem nicht besser. Keine Besucher mehr!«
»Jawohl, Sir«, erwiderte sie kleinlaut und wandte sich zum Gehen.
»Ich erwarte, dass du die Sache mit ihm klärst. Wer immer er ist.«
Wer immer er ist.
Sie fröstelte, als sie gegen den schneidenden Wind ankämpfte,
der ihre Röcke peitschte und ihr Gesicht taub werden ließ. An diesem kalten Abend wagten sich nicht einmal die Hunde vor die Tür, und sie ging allein die Straße entlang, nachdem sie als Letzte das Gebäude verlassen hatte. Es muss dieser furchtbare Mr. Pratt von der Nachtwache sein, der sich nach mir erkundigt hat, dachte sie. Bis jetzt war es ihr gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen, aber Billy hatte ihr erzählt, dass der Mann überall in der Stadt nach ihr fragte. Und das alles nur, weil sie es gewagt hatte, Aurnias Medaillon zu versetzen. Wie hatte ein so wertvolles Schmuckstück in Roses Hände geraten können, wo es doch an den Ehemann der Verstorbenen hätte gehen sollen?
Diesen Ärger habe ich nur Eben zu verdanken, dachte Rose. Ich habe ihn beschuldigt, mich angegriffen zu haben, und jetzt rächt er sich, indem er mich beschuldigt, eine Diebin zu sein. Und natürlich glaubt die Nachtwache Eben, denn alle Iren sind schließlich Diebe.
Sie drang tiefer in das Labyrinth der Elendsbehausungen ein. Ihre Schuhe brachen durch das dünne Eis in stinkende Pfützen ein, während sie durch Straßen ging, die sich in enge Gassen verzweigten, als wollten die Häuser von South Boston sie ringsum einkesseln. Endlich kam sie zu der Tür mit dem niedrigen Bogen und der Vortreppe, auf der die Reste diverser Mahlzeiten herumlagen; abgenagte Knochen und mit schwarzem Schimmel überzogenes Brot warteten hier auf streunende Hunde, die so ausgehungert waren, dass sie auch verdorbene Speisen nicht verschmähten.
Rose klopfte an die Tür.
Ein kleiner Junge mit ungewaschenem Gesicht und blonden Strähnen, die ihm wie ein zerfledderter Vorhang in die Augen hingen, öffnete ihr. Er konnte kaum älter als vier sein, und er starrte die Besucherin stumm an, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Eine schrille Frauenstimme rief: »Herrgott noch eins, Conn, es zieht! Mach die Tür zu!«
Der stumme Knabe trollte sich in eine dunkle Ecke, als
Rose eintrat und die Tür, durch die der Wind pfiff, sorgfältig schloss. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen sich an das schummrige Licht in dem niedrigen Raum gewöhnt hatten, doch nach und nach konnte sie verschiedene Formen ausmachen: den Sessel neben dem Herd, wo das Feuer bis auf die Glut niedergebrannt war. Den Tisch mit den ineinandergestapelten Schüsseln. Und überall um sie herum ein Gewusel von kleinen Köpfen. So viele Kinder – Rose zählte mindestens acht, doch sicherlich gab es noch mehr, die sie nicht sehen konnte, weil sie sich zum Schlafen in irgendeine dunkle Ecke verzogen hatten.
»Hast du das Geld für diese Woche mitgebracht?«
Rose betrachtete die ungeheuer dicke Frau, die im Sessel saß. Jetzt, nachdem ihre Augen sich umgestellt hatten, konnte sie Hepzibahs Gesicht mit dem wulstigen Doppelkinn sehen. Steht sie eigentlich nie aus diesem Sessel auf? Ganz gleich, zu welcher Tages- oder Nachtzeit Rose diese trostlose Behausung auch aufsuchte, immer thronte Hepzibah wie eine fette Königin in ihrem Sessel, während ihre kleinen Schützlinge wie
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